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Obsessive Freundschaft

Tanger, Mitte der fünfziger Jahre. Die Engländerin Alice ist mit ihrem frisch angetrauten Ehemann John in die marokkanische Hafenstadt ausgewandert. Während John einer Beschäftigung für die Regierung nachgeht, zieht sich Alice immer mehr zurück. Sie erträgt die Hitze, den Staub und das wilde Treiben in der nordafrikanischen Stadt, die kurz vor der Unabhängigkeit steht, nicht. Noch dazu kriselt es in der Ehe, John vergnügt sich längst auf außerehelichem Terrain.

In diese unglückliche Stimmung hinein platzt Lucy, Alices ehemals beste Freundin aus Collegezeiten. Der Zufall hatte sie damals zu Zimmergenossinnen gemacht und sie unzertrennlich werden lassen. Dabei könnten die beiden Charaktere nicht unterschiedlicher sein. Alice stammt aus der englischen Oberschicht, sie erhält regelmäßig Geld aus einem Fond, den ihre Tante verwaltet. Lucy wuchs in ärmlichen Verhältnissen an der amerikanischen Ostküste auf. Nur dank eines Stipendiums konnte sie das College besuchen. Was die beiden Mädchen eint, ist die Tatsache, dass sie beide ohne Eltern aufgewachsen sind und nun das gleiche College besuchen.

"Nacht über Tanger" wird von Alice und Lucy abwechselnd aus der Ich-Perspektive erzählt, was dem Leser bzw. Hörer im Rückblick nach und nach Einblicke in die Freundschaft der beiden Frauen verschafft. Kann man anfangs noch nicht verstehen, warum Alice alles andere als erfreut ist über das plötzliche Auftauchen Lucys in Tanger, ahnt man schon bald, dass das Unglück am Ende ihrer Collegezeit etwas mit der Entfremdung der beiden zu tun haben muss.

Damals hatte Lucy versucht, Macht über Alice zu gewinnen, als sie merkte, dass die Freundin sich von ihr entfernte. Auch jetzt in Tanger scheint es so, als lege Lucy es darauf an, Alice zu kontrollieren. Doch ein zweites Mal will sich Alice nicht ihr Leben durch Lucy zerstören lassen.

Die Geschichte einer obsessiven Freundschaft ist das Thema von Christine Mangans Debütroman, der für die ungekürzte Hörbuchfassung von Bibiana Beglau und Friederike Kempter eingelesen wurde. Bibiana Beglau liest mit ihrer etwas tieferen, raueren Stimme die kontrollsüchtige Lucy, während die in ihrer Opferrolle labil wirkende Alice von Friederike Kempter mit einer wesentlich zarteren Stimme dargestellt wird. Die Entscheidung, zwei Sprecherinnen für den Perspektivenwechsel zu engagieren, war geschickt und verhilft dem Hörer, die beiden Charaktere als so unterschiedlich wahrzunehmen, wie sie sind. Wobei es jedoch nicht hilft, ist bei der Entscheidung, welcher der beiden Frauen man bei ihren Erzählungen mehr trauen kann.

Mangan, die zum Thema Gothic Novel promovierte, debütierte mit "Nacht über Tanger" mit einem solchen Erfolg, dass die Verlage in den USA sich um ihr Manuskript rissen. Auch die Filmrechte sind bereits vergeben. Kein Wunder, denn man kann sich diesen Thriller mühelos als Film vorstellen - eine obsessive Frauenfreundschaft vor der Kulisse einer niemals ruhenden, immer heißen und trockenen nordafrikanischen Hafenstadt.

Sabine Mahnel
17.09.2018

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