Hörbücher
Ein literarischer Fund der Extraklasse
Der jüdische Kaufmann Otto Silbermann reist mit einem Koffer voller Geld quer durch Deutschland. Man schreibt das Jahr 1938 und den Monat November. Nach den Novemberpogromen hat sich das Leben für Juden in Deutschland schlagartig und drastisch verschlechtert. So auch für Silbermann, der sich stets als Deutscher fühlte, doch nun aus seinem Haus fliehen und seine arische Frau dort zurücklassen muss. Silbermann will das Ausmaß zunächst nicht wahrhaben, will nicht glauben, dass dies mehr als eine singuläre Reaktion Einzelner sein kann. Auf seiner Odyssee durch Deutschland nutzt er bevorzugt die Eisenbahn als Beförderungsmittel und kommt dabei mit allerlei illustren Personen in Kontakt und ins Gespräch. Seine Verzweiflung wird zusehends größer und größer, da er allmählich erkennen muss, dass er sein Weltbild und insbesondere seine Meinung von Deutschland und den Deutschen revidieren muss.
"Der Reisende" ist der zweite und letzte von Ulrich Alexander Boschwitz geschriebene Roman. Jahrgang 1915, Sohn eines jüdischen Kaufmanns, emigrierte Boschwitz bereits 1935 nach Schweden. Nach einer Odyssee durch viele europäische Staaten war er schließlich 1939 kurz nach Kriegsausbruch in England als feindlicher Ausländer verhaftet und in ein Internierungslager nach Australien verschifft worden. Zuvor hatte er seine beiden einzigen Romane "Menschen neben dem Leben" (1935) und "Der Reisende" (1939) verfasst. Das Manuskript eines weiteren Romans ging zusammen mit Boschwitz 1942 unter, als dessen Schiff auf der Rückfahrt nach England in der Nähe der Azoren von einem deutschen U-Boot beschossen und versenkt wurde. Mit gerade einmal 27 Jahren fand diese hoffnungsvolle Autorenkarriere ein jähes und tragisches Ende.
Ähnlich wie sein Protagonist Otto Silbermann war also auch der Autor in Deutschland ob seiner jüdischen Herkunft entwurzelt worden. Doch anders als Boschwitz scheitert Silbermann in "Der Reisende" daran, den Weg aus Deutschland heraus zu bewerkstelligen. In seinem einzigen Fluchtversuch über die deutsch-belgische Grenze bei Aachen wird Silbermanns Verzweiflung dann allerdings so richtig greifbar, als er die belgischen Beamten um sein Leben anfleht und bereit ist, ihnen alles Geld der Welt zu versprechen. "Der Reisende" ist kein Roman, der von einer Spannungskurve geprägt ist, vielmehr ist der Prozess, der in Otto Silbermann abläuft, der Treiber dieser Geschichte. Die Ignoranz des menschlichen Denkens gegenüber Gedanken oder gar Fakten, die der inneren Überzeugung widersprechen, wird in Boschwitz´ Roman wunderbar ausgebreitet.
Zwar hatte der Autor "Der Reisende" bereits 1939 in deutscher Sprache verfasst, erschienen war es bisher allerdings lediglich in einer englischen Übersetzung. So dauerte es knapp achtzig Jahre, bis dieses Werk im Original veröffentlicht werden konnte. Dies ist nun dank des Klett-Cotta Verlags geschehen, ob des zu erwartenden Erfolgs hat Der Audio Verlag sogleich auch eine ungekürzte Lesung herausgebracht. Torben Kessler liefert dabei knapp siebeneinhalb Stunden lang eine meisterliche Darbietung als Sprecher des Hörbuchs ab. Der für gewöhnlich am Frankfurter Schauspiel tätige Kessler hat sich dank vieler Hörbuchproduktionen in den letzten Jahren einen Namen auf dem deutschen Markt gemacht und gehört mittlerweile zu den beliebtesten und begehrtesten Sprechern hierzulande.
Ulrich Alexander Boschwitz ist mit "Der Reisende" eine packende Erzählung gelungen, die mit dem Deutschen Reich Ende 1938 einen sehr düsteren Hintergrund besitzt. Der Autor bringt den Hörer dazu, aufgrund der so offensichtlichen Verzweiflung Otto Silbermanns Überlegungen anzustellen, welchen Weg man denn selbst in dieser unlösbar erscheinenden Situation wählen würde. Das singuläre Schicksal Silbermanns verdeutlicht einem dabei sehr anschaulich, wie es den Nationalsozialisten während ihrer Schreckensherrschaft gelungen war, Persönlichkeiten zu brechen und Widerstand zum Erliegen zu bringen. So wird die Szene auf dem Polizeirevier, als Silbermann den Verlust seines Geldkoffers zur Anzeige bringen möchte, noch lange beim Hörer nachhallen.
Das Erscheinen von "Der Reisende" knapp achtzig Jahre, nachdem es vom Autor verfasst worden war, muss man als Liebhaber guter Literatur feiern und schätzen. Es bleibt zu hoffen, dass auch "Menschen neben dem Leben", das zweite Werk aus der Feder von Ulrich Alexander Boschwitz, in absehbarer Zeit den Weg in die hiesigen Buchläden finden wird.
Christoph Mahnel
16.04.2018