Hörbücher
Homo homini lupus
Hamburg im Winter 1946/47: Der junge Hanno Dietz stößt bei seinen täglichen Erkundungsgängen in den Trümmern der Hamburger Innenstadt auf eine Leiche und auf einen kleinen Jungen, der scheinbar zu niemandem gehört. Hanno nimmt ihn mit nach Hause, und der dreijährige Joost wächst fortan bei der Familie Dietz auf.
Uckermark, 1945: Als die russischen Truppen anrücken, verlässt die Familie Anquist ihr Gut. Drei Generationen einer Familie Anquist begeben sich auf die Flucht vor gleich mehreren Feinden.
Köln, 1992: Die Lehrerin Anna Meerbaum möchte sehr gerne mehr über die Geschichte der Familie ihrer Mutter in Erfahrung bringen. Seltsam schweigsam hat diese nie Interesse an einer Rückkehr in die Uckermark gezeigt und stets abweisend auf die Fragen ihrer Tochter reagiert.
Drei Handlungsstränge zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten bilden das Gerüst für Mechtild Borrmanns neuen Roman "Trümmerkind". Parallel zur Buchausgabe bei Droemer ist beim Argon Verlag eine ungekürzte Lesung als Hörbuch erschienen. Über sechs CDs hinweg erstreckt sich der fast acht Stunden lange Vortrag von Vera Teltz. Mit einem sehr guten Gespür für die immer spannender werdende Handlung trägt die Schauspielerin die Geschichte vor und zieht den Hörer in ihren Bann. Aufgrund der dreispurigen Handlung sollte man als Hörer sorgfältig auf die nach jedem Spurwechsel und am Anfang eines jeden Kapitels genannten Orts- und Zeitangaben achten, um den sich lohnenden Überblick zu behalten.
Im Erzählstrang des Hamburger Jahrhundertwinters von 1946/47 macht die Autorin die Not der Menschen besonders deutlich. Viele Familien warteten noch - vergeblich - auf die Heimkehr des Vaters und mussten sich mehr schlecht als recht durchschlagen. Die Aufgabe der Kinder bestand vornehmlich im Sammeln brauchbarer Dinge für das tägliche Überleben. Noch menschenverachtender schließlich ist die Szenerie in den letzten Kriegsmonaten in der Uckermark, wo die Menschen die über sie hereinfallenden Rotarmisten fürchten mussten. Doch ist der Mensch dem Menschen ein Wolf, wie sich schließlich in diesem Handlungsstrang zeigen soll. Beinahe eine Wohlfühloase begegnet dem Hörer schließlich in den Neunziger Jahren, wo Anna Meerbaum sich nicht mit den ausweichenden Antworten ihrer Mutter begnügen will, sondern tätig wird und sich in der Uckermark auf Ahnenforschung begibt. Ohne allerdings dabei zu ahnen, welche Büchse der Pandora sie dort öffnen wird.
Mechtild Borrmanns "Trümmerkind" besitzt alle Zutaten für einen wunderbaren Roman, der weder ein Krimi noch ein historischer Roman noch ein Gesellschaftsroman ist, sondern irgendwie von allem etwas. Ohne einen ausufernden Wälzer abzuliefern, ist es der Autorin gelungen, mit einem relativ überschaubaren Werk - die Buchausgabe besteht aus nur rund 300 Seiten - fast zwei Hände voll an Figuren mit viel Tiefgang und teilweise erschütternden Schicksalen zu schaffen. Am Anfang hat man als Hörer eine leichte Ahnung davon, worauf die Geschichte hinauslaufen könnte und wie die unterschiedlichen Handlungsstränge zusammengehören könnten, doch lässt einen Mechtild Borrmann lange Zeit im Ungewissen darüber, wo die Verknüpfungen genau liegen. Erst spät wird sich schließlich das Drama um den kleinen Joost Dietz auflösen.
Die Autorin hat es wunderbar verstanden, die drei unterschiedlichen zeitlichen Epochen eindringlich rüberzubringen. Wer schon bei dem einen oder anderen Hörbuch darunter gelitten hat, dass einen die Geschichte nicht so recht packen wollte, dem sei versichert, dass "Trümmerkind" dies garantiert gelingen wird. Obgleich gerade gegen Ende die Geschichte von der Spannung getragen wird, ist es vor allem eine ergreifende Geschichte über persönlichen Verlust und existenzielle Unklarheiten, die so manchem Menschen als große Prüfung aufgetragen werden. Zum Jahresausklang hat Mechtild Borrmann mit "Trümmerkind" nochmal ein richtig bemerkenswertes Werk abgeliefert, das garantiert auch noch über den Jahreswechsel einige Leser und Hörer begeistern wird.
Christoph Mahnel
05.02.2018