Hörbücher

Stimmen aus der Gruft

Ausgelöst durch das Attentat auf den österreichischen Thronfolger in Sarajevo begann vor mehr als einem Jahrhundert am 28. Juli 1914 der Erste Weltkrieg. Über vier Jahre lang beteiligten sich peu à peu immer mehr Staaten an diesem ersten großen globalen Töten. Ungefähr 17 Millionen Menschen ließen in dieser Zeit ihr Leben, doch damit nicht genug, denn vermochte dieser erste Weltenbrand nicht, die Menschheit zu wecken, sondern ließ gut zwei Jahrzehnte später mit dem Zweiten Weltkrieg ein noch größeres und scheußlicheres Grauen folgen. Viel ist gerade in den letzten Jahren über die Unmenschlichkeit dieses Ersten Weltkrieges geschrieben worden, schließlich jährte er sich in dieser Zeit zum hundertsten Male. Doch vermag keine Geschichtsschreibung der Welt die wirkliche Grausamkeit und den leibhaftigen Schmerz transportieren, den dieser Krieg verursachte. Da heute keine Beteiligten dieses Krieges mehr leben und somit nicht Zeugnis davon geben können, ist man dafür auf persönliche Niederschriften angewiesen.

Lisbeth Exner und Herbert Kapfer haben sich aufgemacht, persönliche Tagebücher aus der Zeit des Ersten Weltkriegs ausfindig zu machen und diese zu durchforsten. Herausgekommen ist bei dieser Mammutarbeit ihre "Verborgene Chronik 1914-1918". Einträge aus über 100 verschiedenen, bis dato unveröffentlichten Tagebüchern von Zeitzeugen haben sie dafür herangezogen, um eine chronologisch angelegte Zeitreise durch fast viereinhalb Jahre Weltkrieg zu unternehmen. Bereits vor drei Jahren hatten die beiden eine "Verborgene Chronik 1914" herausgebracht, die lediglich das erste halbe Kriegsjahr zum Inhalt hatte. In der Zwischenzeit haben sie ihre Arbeit bis über das Kriegsende hinaus in den Januar 1919 weitergesponnen. Es liegt damit nun ein epochales Zeitdokument sondergleichen vor, das ungekannte Einblicke in die Unmenschlichkeit des Ersten Weltkriegs bietet.

Neben der Buchausgabe, die aus zwei Büchern besteht, eines für 1914 und eines für die restlichen Jahre, hat insbesondere die beim Hörverlag produzierte Hörbuchausgabe für großes Aufsehen gesorgt. Fast 20 Stunden und 15 CDs umfasst besagtes Hörbuch und erweckt die rund 100 Zeitzeugen wieder zum Leben. Um den Vortrag möglichst spannend zu gestalten, haben die Macher dieses Projekts gleich drei Sprecher dafür engagiert. Mit Meike Droste, Wolfram Koch und Wolfgang Condrus haben sich drei renommierte Stimmen dieser Herausforderung gestellt. Doch müssen diese ihre zweifelsfrei existierenden Qualitäten beim vorliegenden Hörbuch hintenanstellen. Das Vortragen von Tagebucheinträgen verlangt nun mal eine sehr nüchterne Herangehensweise an die Lesung. Stimmliche Verrenkungen wären an dieser Stelle völlig fehl am Platze, so dass die bewusst gewählte Vortragsweise ihre volle Wirkung auf den Hörer entfalten kann.

Das Hörbuch wird auf 15 Scheiben in einer stabilen Papp-Box und mit einem sehr ausführlichen Booklet ausgeliefert. Darin findet man viele Zusatzinformationen, die einem beim Konsum der Tagebucheinträge sehr hilfreich sind. Da das gesamte Hörbuch ausschließlich aus dem Wechselgesang der drei Sprecher sowie der rund hundert Tagebuchschreiber besteht und keinen zeitlichen Erzählrahmen kennt, der den aktuellen Stand auf der Zeitachse in den relevanten Kontext des Krieges setzt, ist hin und wieder ein Blick auf die im Booklet befindliche Zeittafel von Nöten. Außerdem hält das 60 Seiten umfassende Beiheft Informationen zu allen Tagebuch-Verfassern bereit, sofern sie denn bekannt sind. Dabei gehen die Beschreibungen auch über das Kriegsende hinaus und liefern somit ein "Was wurde eigentlich aus ...?" zu allen Personen, die über fast zwanzig Stunden hinweg ihre intimsten Gedanken und Sorgen mit dem Hörer geteilt haben.

Grundsätzlich kämpft die Hörbuchausgabe von "Verborgene Chroniken 1914-1918" mit der Herausforderung, wie der Hörer sich denn bestmöglich diesem Werk nähern könnte. Die oftmals sehr kurzen, nur zwei, drei Sätze umfassenden Einträge und die ständigen Sprünge zwischen den einzelnen Chronisten führen die klassische Hörbuchnutzung, beispielsweise im Auto auf der Fahrt zur Arbeit, praktisch ad absurdum. Um richtig eintauchen zu können, sollte man sich jeden Abend ein bis zwei Stunden im lauschigen Sessel des heimischen Wohnzimmers reservieren, eine CD einlegen und parallel im Booklet die Zusatzinformationen konsumieren. So wird es dem Hörer garantiert gelingen, eine notwendige und angemessene Beziehung zu den Personen, die im Hier und Jetzt bisweilen wie Stimmen aus der Gruft klingen, aufbauen zu können. Doch dieser zeitliche und organisatorische Aufwand lohnt sich definitiv, hat man hier doch eines der bedeutendsten und beeindruckendsten Zeugnisse aus dem Ersten Weltkrieg vorliegen.

Christoph Mahnel
27.11.2017

 
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Das Buch:

Lisbeth Exner, Herbert Kapfer: Verborgene Chronik 1914-1918. Die Gesamtausgabe

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Sprecher: Meike Droste, Wolfram Koch, Wolfgang Condrus
München: Der Hörverlag 2017
Spielzeit: 1159 Min., € 49,99
ISBN: 978-3-8445-2593-9

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