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Der Weg in die Katastrophe

Mitten in Paris konnten sich Myriam und Paul scheinbar ihren französischen Traum verwirklichen. Mit Mila und Adam haben sie ihre beiden Wunschkinder bekommen. Doch während Paul als Musikproduzent beschäftigt und ausgelastet ist, nagt an Myriam die Sehnsucht, auch wieder außerhalb ihrer Mutterrolle erfolgreich zu sein und Anerkennung zu erhalten. Da kommt ihr der Kontakt zu einem ehemaligen Kommilitonen ganz gelegen. Myriam bewundert diesen und die Karriere, die er hingelegt hat. Umso glücklicher ist sie, dass sie in seiner Kanzlei tatsächlich eine Anstellung und damit eine Aufgabe findet. Doch nun muss eine Tagesmutter her, eine "Nounou", wie man im Französischen zu sagen pflegt. Die Rekrutierung einer solchen gestaltet sich recht schwierig, schließlich wird diese eine zentrale Rolle in der familiären Privatsphäre einnehmen.

Myriam und Paul glauben daher an ein Geschenk des Himmels, als sich nach ersten Fehlschlägen Louise bei ihnen vorstellt. Die beiden Kinder sind sofort Feuer und Flamme für sie, und tatsächlich soll sich Louise als die perfekte Besetzung erweisen - scheinbar. Keine Aufgabe ist ihr zu schwer, alles erledigt sie mit einer Leichtigkeit, so dass sich Myriam und Paul bedingungslos ihren beruflichen Aufgaben widmen können, da ihnen der Rücken komplett freigehalten wird. Schließlich gibt es nach einiger Zeit kleine Anzeichen für eine Kluft, die sich zwischen den drei Protagonisten auftut. Doch weder Paul noch Myriam hatten jemals einen Gedanken daran verschwendet, dass es tatsächlich zu der großen Katastrophe ihres Lebens kommen könnte: "Adam ist tot. Mila wird ihren Verletzungen erliegen.".

Mit diesen Worten endet das einleitende Kapitel von "Dann schlaf auch du". Die Autorin Leïla Slimani hat im vergangenen Jahr damit den Prix Goncourt gewonnen, den bedeutendsten französischen Literaturpreis, und sich damit eingereiht in die Beletage der französischen Schriftsteller. Geboren anno 1981 in der marokkanischen Hauptstadt Rabat ist sie daher momentan eine der am heißesten gehandelten Schriftstellerinnen Frankreichs, zumal "Chanson douce" - so der Originaltitel - erst ihr dritter Roman überhaupt war. In diesem Spätsommer hat nun auch die hiesige Leserschaft die Freude, die deutsche Übersetzung dieses hochdekorierten Werks in Händen zu halten. Zeitgleich zur Buchausgabe beim Luchterhand Literaturverlag hat der Hörverlag eine ungekürzte Lesung herausgebracht.

Das vorliegende Hörbuch wird über knapp fünfeinhalb Stunden lang von Constanze Becker gelesen. Die vorrangig am Schauspiel Frankfurt aktive Actrice ist bis dato kaum als Sprecherin von Hörbüchern in Erscheinung getreten, jedoch völlig zu Unrecht, wie sie mit ihrer Leistung in "Dann schlaf auch du" unter Beweis stellt. Der im Buch herrschenden Atmosphäre angemessen ist sie in der Lage, die jeweiligen Situationen und handelnden Charaktere gut voneinander zu trennen. Es fällt schwer, dieses Werk in eine vorgegebene Kategorie einzuordnen, da es tragische Züge trägt, psychische Aspekte die Handlung treiben, aber auch einige gesellschaftliche Blickwinkel essentiell für den Verlauf der Handlung sind. Die Frage, ob sich die Autorin einen Gefallen getan hat, gleich im ersten Kapitel das dramatische Ende vorwegzunehmen, wird sich der eine oder andere Hörer sicherlich stellen. Klar ist allerdings, dass der Roman damit eine ganz andere Ausrichtung erhalten hat, da nun nicht der Ausgang, sondern der Prozess im Fokus steht.

Myriam und Paul blenden in ihrem Überschwang über Louises hervorragende Arbeit als "Nounou" völlig die Person selbst aus. Sie wissen nichts über Louise, über ihr trauriges Leben als Ehefrau, als Mutter und seit kurzem als verschuldete Witwe. Obgleich sie alle drei scheinbar perfekt im Konstrukt der Familie harmonieren, trennen Louise und ihre Arbeitgeber gesellschaftlich Welten. Leïla Slimani hat damit ein Thema verarbeitet, das bekanntermaßen in Frankreich und insbesondere in Paris mit großer Sorge beäugt wird: Die gesellschaftliche Kluft zwischen den Banlieues und den Wohlsituierten im Herzen der Großstadt. "Dann schlaf auch du" ist ein vielschichtiger Roman mit einem überraschenden und hinterfragenswerten Aufbau, einer wunderbaren und es auf den Punkt bringenden Sprache und durchsetzt mit vielen Themenstellungen, die einem teilweise erst im Nachgang vollends präsent werden. Der Jury des "Prix Goncourt" muss an dieser Stelle Anerkennung für die vortreffliche Entscheidung im vergangenen Jahr gezollt werden.

Christoph Mahnel
18.09.2017

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