Bildbände

Neugier eines Naiven

Die Mauer musste man nicht nur gesehen haben. Wichtiger war, die Mauer zu fühlen. Nur, wer die Mauer fühlte, nicht abstumpfte angesichts der widrigen Trennung der Stadt Berlin, wusste wirklich, was die Mauer ist. Nun ist es inzwischen soweit, dass über die Berliner Mauer Leute reden, die sie selten genug  - oder gar nicht - gesehen haben, geschweige denn gefühlt. Einiges vom Wissen der Nachgeborenen ist in dem Foto-Text-Band "Weltende - Die Ostseite der Berliner Mauer" zu lesen. Dennoch ist er eine Novität, die nicht nur Bekanntes wiederkäut.

Die Neuheit ist, wie im Titel bereits formuliert, die Sicht auf das Betonmonstrum vom östlichen Standort aus. Hat´s nicht gegeben, fragt man sich erstaunt wie der Schriftsteller Lutz Rathenow, einer der Verfasser der sechs Essays des Buches? Wieso hat die stolze DDR nie einen stolz-farbenprächtigen Band zur "sichersten und saubersten Grenze der Welt" publiziert? Ja, wieso nicht? Nun müssen wir uns mit der miesen, fiesen, grässlichen Ansicht der Ostseite "zufrieden" geben. Geliefert hat die Serie der Mauer-Bilder ein Unprofessioneller, der sich ein Bild machen wollte. Er wollte hinwegkommen über sein Unwissen und Unverständnis. Er wollte die Mauer kennenlernen. Und auch das, was hinter der Mauer existierte und Westberlin genannt wurde. Der durch sich selbst Angestachelte war ein Stadtrandberliner. Er war einer des Jahrgangs 1968. Als 18/19 Jähriger stromerte er durch das Stadtgebiet, wo es Grenzgebiet war. Wo er nichts zu suchen hatte und schon gar nicht zu fotografieren, weil´s verboten war. Der junge Mann, Detlef Matthes, war sowohl ein Naiver wie Neugieriger. Neugier nützte ihm, um die mehr oder weniger verdeckten und versteckten Winkel auszumachen, von denen das Sperrgebiet und die Grenzanlagen zu fotografieren waren.

Die Schwarz-Weiß-Aufnahmen zeigen das Unschöne unschön. Zeigen das Bröckelnde, Verstümmelte, Banale, das zur Mauer und ihrem Umfeld gehörte. Und der Blick des unfreiwilligen Dokumentaristen geht über die Barrikaden hinweg. Der Blick nach Drüben ist dem Fotografierenden wichtig. Es ist kein Blick der Sehnsucht. Eher ein Blick des Vorausschauens. Alles, was in den Zeitbildern von Matthes ist, ist ein Registrieren dessen, was und wie es ist. Foto an Foto gereiht, sind sie keine gewöhnlichen Erinnerungsfotos. Es sind die Fotos eines Einzel-Gängers, die für Alle zum Erinnern da sind. Für ein Erinnern, das sich dem verklärenden, entschuldigenden Besinnen widersetzt. Der Band ist der bittere wie nötige Gegensatz zu den weitverbreiteten bunten Bildern der Westseite der Berliner Mauer. Ein Buch also, das alles andere als überflüssig ist oder zu spät kommt. Es bedurfte der besonderen Haltung, der besonderen Umstände. damit etwas Besonderes wurde, wie es Detlef Matthes möglich gemacht hat. So einfach die Aufnahmen in ihrer Authenzität sind, so einfach, schlicht sind die Worte von Matthes, mit denen er erzählt, weshalb er, wann und wo fotografierte. Ohne Auftrag. Für sich. Und ganz unerwartet für die Nachwelt, damit sie sich ein nicht interpretiertes Bild von der Berliner Mauer machen kann. Der Band "Weltende - Die Ostseite der Berliner Mauer" hat Zukunft.

Bernd Heimberger
28.03.2011

 
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Das Buch:

Gerhard Sälter, Tina Schaller, Anna Kaminsky (Hg.): Weltende - Die Ostseite der Berliner Mauer

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Berlin: Ch. Links Verlag 2011
108 S., € 14,90
ISBN: 978-3-8615-3622-2

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