Romane
Hanns-Josef Ortheil: Die Pariser Abende des Roland Barthes. Eine Hommage.
Der am 12. November 1915 geborene französische Philosoph und Literaturkritiker Roland Barthes, dessen Lebensweg unzertrennlich mit Paris verbunden war, ist für Hanns-Josef Ortheil - wie er in seinem neulich erschienenen Buch Die Pariser Abende des Roland Barthes zugibt - "der einzige Schriftsteller", dessen Werk er "in den letzten vierzig Jahren […] ununterbrochen verfolgt und studiert ha[t]" (S. 9). Die Ursachen dafür sind hauptsächlich in der Biografie des Romanciers zu suchen, deren Verwirrungen ihn in den frühen Siebzigern aus Rom über Mainz nach Paris geführt haben.
In den kommenden Jahren wird kehrte er mehrmals in die französische Hauptstadt zurück, um hier Inspiration, Abwechslung und nicht zuletzt Berührung mit dem Neuen und Frischen zu suchen, also mit jenen Tendenzen und Methoden, die im krassen Kontrast zu der akademischen Praxis seines Mainzer Studiums standen. Denn: "»Paris« war gegenüber dem Studium in Mainz das ganz andere, inspirierende und berauschende Leben. Mit der Zeit wurde die Stadt für mich so wichtig, wie es früher einmal Rom gewesen war. Ich konnte und wollte vorerst nicht nach Italien zurück, die Erinnerungen an das abgebrochene Studium waren noch zu lebendig. Und so konzentrierte ich mich jetzt voller Energie auf Paris und begann, die Stadt immer aufs Neue in ihren verschiedenen Zonen zu durchstreifen" (S. 6). Eine ähnlich anmutende Erfahrung des Stadt-Durchstreifens und somit eine sehr konzise Auseinandersetzung mit ihrer Struktur liegt dem hier zu rezensierenden Werk zugrunde. Diesmal aber geht es nicht um spontane Streifzüge durch die französische Metropole, sondern um ein literarisches Ergründen der Stadt in imaginierter Begleitung Roland Barthes’, um ein sehr persönliches Erlebnis jener Terrains und Zonen der Seine-Metropole, die der Verfasser der Lust am Text einst persönlich erlebt und nicht zuletzt in seinem Schaffen verewigt hat.
Einen nicht unwichtigen Platz nehmen in diesem Kontext Barthes’ Pariser Abende ein, in denen er seine abendlichen Streifzüge durch die Stadt zwischen dem 24. August und dem 17. September 1979 durch präzise Tagebucheintragungen dokumentiert. Da diese Eintragungen nach dem Tode seiner Mutter entstanden, mit der der Philosoph in einer tiefen Symbiose lebte, lassen sie sich als Zeugnisse seiner Sehnsucht nach einer "Vita nova" verstehen, da Barthes in ihnen versucht, "das frühere Leben zu untersuchen, mit dem Blick darauf, ob sich daraus ein neues Leben ergeben könnte. In diesem Sinn fixiert das Tagebuch des Spätsommers 1979 keine Besonderheiten der Umgebung und geht nicht auf die Suche nach originellen Entdeckungen. Es sondiert vielmehr das in den früheren Konstellationen (mit den alten Orten, Freunden, Geselligkeiten) weiter verlaufende Leben, um Tag für Tag zu ermitteln, welche Intensitäten dieses Leben nach dem Tod der geliebten Mutter überhaupt noch hat" (S. 19). Ortheil kennt den Text seit Jahren und erinnerte sich 2015 erneut an ihn. Der Schriftsteller fühlt sich von ihm so stark angezogen, dass er in diesem Jahr, mit den Pariser Abenden ausgerüstet, die französische Hauptstadt mehrmals besuchte, um sich hier "so häufig wie möglich in dem Raum oder in der Nähe der Räume aufzuhalten, die er [d.h. Barthes - K.G.] selbst durchstreift und aufgesucht hatte" (S. 19). Ortheil notierte hierzu: "Was zunächst wie das Spiel eines Schülers und Verehrers wirkte, der seinem »Lehrer« und »Maître« nachlebte und hundert Jahre nach seiner Geburt so etwas wie seine »Nähe« und »Gegenwart« suchte, führte schon bald zu kleinen Texten, in denen ich meine Suche, mein Nachdenken und meine Hinwendung zu diesem mich prägenden Schriftsteller beschrieb" (S. 10). So entsteht eine sehr persönliche literarische Annäherung an den von Ortheil verehrten Schriftsteller und somit ein einzigartiges Porträt seiner Stadt.
Das Buch ist durch eine Rahmenstruktur gekennzeichnet und besteht aus 15 miniaturhaft anmutenden Kapiteln, deren Titel sich hauptsächlich auf unterschiedliche Elemente der Stadttopografie beziehen, die in engem Zusammenhang mit den abendlichen Spaziergängen des Philosophen stehen. Ortheil besucht sie mit einem fundierten Vorwissen ausgestattet, lenkt seine Aufmerksamkeit - ein typischer Zug seiner schriftstellerischen Praxis - auf Details und Atmosphären, studiert die Einrichtung, beobachtet Menschen, die einen bestimmten Raum füllen, geht auf die Bezüge mit Barthes ein und rekonstruiert kurze Szenen aus seinem Leben, als behandelte er die Pariser Abende seines Meisters als ein Szenario, das anno 2015 gespielt werden will. Was sich in jenen Räumen einst ereignete, wird nun aber mit einem neuen Inhalt ausgefüllt, denn in Ortheils Text scheint es nicht nur um die Schilderung der Emotionen und somit der Gefühlswelt des Franzosen zu gehen, sondern auch um die Auseinandersetzung mit dem eigenen Reifungsprozess. So ist Paris im Ortheilschen Buch nicht einzig und allein das Paris von Roland Barthes. Denn es ist auch das Paris von Hanns-Josef Ortheil, der 2015 in diese Stadt kommt, um - wie es mir scheint - auch seinen eigenen, hier einst hinterlassenen Spuren zu folgen. Und unter anderen aus diesem Grunde betrachte ich Die Pariser Abende des Roland Barthes als einen der wichtigsten Texte des Stuttgarter Schriftstellers, als eine relevante Etappe seines schon seit langem andauernden Ringens mit der eigenen Autobiographie. Ich halte es gleichzeitig für eines der bedeutendsten Werke Ortheils aus einem durchaus persönlichen Grund; denn so wie Barthes für ihn, ist er für mich der einzige Schriftsteller, dessen Veröffentlichungen ich seit 2000 systematisch verfolge und studiere, nicht zuletzt wegen ihres autobiografischen Gehalts.
Autobiografische Einschübe lassen sich auch an unterschiedlichen Stellen dieser Publikation finden. In diesen geht der Verfasser zum einen auf seine Reise nach Paris ein, die er 1965 mit dem Vater unternahm, sowie auf die bereits erwähnten Pariser Ausflüge während seines Studiums in Mainz und damit auf das "Glück der Ankunft" in der französischen Hauptstadt (S. 95). Zum anderen reflektiert er aber auch über seine aktuellen Gewohnheiten, Vorlieben, Passionen und literarischen Pläne, wie es u.a. im letzten Satz des Werkes der Fall ist, der offensichtlich auf den Titel des ebenfalls 2015 herausgebrachten Romans Der Stift und das Papier anspielt. Als besonders eindrucksvoll finde ich jedoch all die Fragmente des Buches, in denen Ortheil seine persönlichen, im Paris der 70er Jahre gesammelten Erfahrungen und somit seine Innenwelt und die ihn quälenden Gemütsregungen aufgreift, wie Angst, deren starkes Erleben ihn mit seinem Meister verbindet, oder extreme Schüchternheit, die ihm, einem armen Studenten aus Deutschland, vor Jahren nicht erlaubte, den "im offenen Mantel über die Straße eilen[den]" (S. 37) Barthes anzusprechen.
Eine bedeutsame Komponente des Werkes macht die für Ortheils Literatur so charakteristische Beschäftigung mit dem Kulinarischen aus. Die Restaurants, Bistros oder Cafés, die der Autor aufsucht, werden mit Einzelheiten ihrer Innenausstattung porträtiert, nach der Qualität und dem Charakter des Menüs gründlich geprüft. Ortheil bestellt nicht immer das, was vielleicht Barthes in einem bestimmten Lokal gewählt haben könnte, sondern das, was in einem konkreten Moment seines Pariser Abenteuers mit dem Philosophen am besten zu den Stimmungen und Atmosphären jeweiliger Tageszeit und dem ausgesuchten Ort passt. So bemerkt er beispielsweise, dass manche Restaurants zu "Zonen einer »Auszeit«" (S. 13) gehören und somit Räume eines "Zur-Ruhe-Kommens" (S. 12) bilden. Sie gönnen den Kunden Zeit, was eine Mahlzeit zu einer mehrstündigen Meditation stilisiert und ihr die Note eines puren Vergnügens verleiht, das Barthes auch zu kultivieren pflegte. Unter die Lupe werden somit die in jener Stadt praktizierten Rituale genommen, auch die, denen der Philosoph besonders gerne verfiel und die nicht zuletzt mit konkreten Zonen der Metropole verbunden sind. Als Barthes’ Schüler strukturiert Ortheil die Etablissements, die er frequentiert, teilt die Menschen, die ihn umgeben, in Kategorien auf, untersucht die Rolle des Blicks. Er schaut genau und sieht viel, um dann - in die Fußstapfen seines Lehrers tretend - zu unterscheiden, zu klassifizieren, zu vergleichen. "Nur darum geht es, nicht aber um »das feuilletonistische Sehen« und recht nicht um »die Poesie einer Stadt«" (S. 47).
Das Buch bietet eine eher nicht systematische Auseinandersetzung mit den Fakten aus Barthes’ Leben. Umrissen werden der familiäre Hintergrund, die Eigentümlichkeiten seiner Wohnräume, die starke Verbundenheit mit der Mutter und die Folgen ihres Verlustes, das Spezifikum seiner Texte, der mögliche Plan des Tages, in dem eine nicht zu überschätzende Rolle der im Titel erwähnte Abend spielte, die Zeit der Kontakte, Hoffnungen, Freuden, Enttäuschungen, Spannungen: "Eine charakteristische Pariser Spannung, eine Neugierde, ein das Erotische berührendes Verlangen […], ein Aufbruch ins Gefährliche, Ungewisse, Dunkle, aber auch eine Sehnsucht nach dem Fremden, Überraschenden, Hinreißenden. Mit dem Abend beginnt so die legendäre Pariser Tageszeit" (S. 18). Barthes’ Begegnung mit dem Abend hat wenig mit einem spontanen Sturz ins Ungewisse zu tun. Denn er verlässt das Haus, um sich zuerst in einem Raum sehen zu lassen, der noch Züge des Häuslichen aufweist und als "Stätte des Übergangs" (S. 60) gedeutet werden kann, um dann in den Abend richtig einzusteigen und zu guter Letzt sich von der Welt abzuwenden, zu distanzieren und in das Alleinsein des mutterlosen Hauses zurückzukehren. Ausweglosigkeit und Verzweiflung schimmern in den Fragmenten durch, die Barthes’ Streifzüge durch das nächtliche Paris beschreiben, besonders in jenen Passagen, in denen Ortheil auf seinen Ausflug zur Métrostation Strasbourg - Saint-Denis zu sprechen kommt, wo er sich in die Rolle des Meisters versetzt, der hier seine pure Einsamkeit zelebriert: "Für einen Moment spiegelt meine eigene kleine Hilfslosigkeit die um so viel größere des Mannes, dem ich hierher gefolgt bin. Aus dem vertrauten Raum in der Nähe der Place Saint-Sulpice hat es ihn hierher verschlagen, in dieses feindliche, verquere Terrain. Hier, auf diesen Sitzen oder dieser Bank, hat er einen Moment inne gehalten, es schauderte ihn abgrundtief, und danach hat er sich weiter auf den Weg gemacht zu seiner Verabredung mit den Freunden, von der er wahrscheinlich von vornherein wusste, dass sie ihn nicht zufriedenstellen (oder »weiterbringen«) würde. Was für ein trostloser, charakteristischer, intensiver Augenblick!" (S. 91 f.). Dieses rührende Alleinsein steht im deutlichen Gegensatz zu jenem Phänomen, das als Essenz des Abends oder des Pariser Daseins schlechthin interpretiert werden kann: zur Begegnung mit einem anderen Menschen, sei es zu einer wirklich zustande gekommenen, gelungenen, sei es zu einer nur erträumten, erwünschten, in Wirklichkeit nie dagewesenen. Denn: "Es gibt […] nur einen einzigen Weg", der zur Ergründung dieser Stadt "führt: ein Haus zu betreten, hineingeführt zu werden, an der Hand genommen die Treppen hinaufzusteigen, vor einer Wohnungstür inne zu halten, den Atem des anderen zu spüren, hineinzugehen" (S. 50), so eine der zentralsten, wenn nicht die zentralste Passage des Werkes, die auf die grundlegenden oder lediglich imaginierten Pariser Erfahrungen im Leben von beiden Helden des Textes, Barthes und Ortheil, hinweist.
Die Pariser Abende des Roland Barthes setzen sich aus fotografischen bzw. filmischen Momentaufnahmen zusammen, die der Autor fokussiert, für einen Augenblick festhält, um sich dann von ihnen zu befreien - vorübergehend oder endgültig. Etwas Filmisches haftet also dem Ganzen an, und das scheint nicht nur daraus herzurühren, dass der Verfasser zudem auf die französische Filmtradition und auf den Film La maman et la putain zu sprechen kommt. Diesen bringt er mit den Fakten aus seinem Leben und so mit einer geheimnisumwobenen Dame "in einem weißen Kostüm" (S. 40) in Zusammenhang - ein Motiv, das einen Roman grundieren könnte. Einen nicht unwichtigen Bestandteil dieser Bilder- oder Szenenfolgen machen Farben aus, denn mit dem Blick eines ‘Detailfetischisten’ bemerkt Ortheil auch "[e]in weiches Grau oder die Blassfärbung eines anderen, zurückhaltenden Farbtons", die von "Bauwerken aus[gehen], eine geduldige Anonymität, mit dem versteckten Hinweis, dass sich hinter diesem Grau oder diesen blassen Farben große Szenen abspielen" (S. 49), jene Szenen, die die berühmten französischen Romanciers in ihren Werken gemalt haben.
Da Ortheil sich in Paris oft in legendäre Etablissements begibt, thematisiert er nicht selten ihren kulturgeschichtlichen Hintergrund - so wie er es in anderen Veröffentlichungen zu tun pflegte, die er weiteren Lieblingszielen seiner Reisen widmete und die, ähnlich wie das vorliegende Buch, sich gegen eine eindeutige Gattungszuordnung sträuben. So ist in seinem Text von Simone de Beauvoir, Alberto Giacometti, Eugène Ionesco, Man Ray, Peter Handke, Heinrich Heine, Georges Perec, Henri Bergson, André Gide, Louis-Sébastien Mercier oder Charles Baudelaire die Rede. Die Publikation schließt mit einem Verzeichnis der zitierten oder erwähnten Literatur, dem Roland Barthes’ Pariser Abende in der Übersetzung von Hans-Horst Henschen folgen. Den Band illustrieren stimmungsvolle Schwarz-Weiß-Fotos von Ortheil und seiner Tochter Lotta, die bildhaft in die Atmosphären vom Paris der 70er Jahre einführen. Ein Buch voller Reflexionen und Anregungen, eine nicht enden wollende Geschichte von Menschen, die allzu viel sehen und deshalb genau wissen, was Angst bedeutet. Ein Buch, das aber gleichzeitig plausibel zeigt, dass der Angst-Passion auch ein positives Potenzial anhaftet, das es durchaus erlaubt, sie in eine andere Passion zu verwandeln - die des Schreibens.
Katarzyna Grzywka (Universität Warschau)
25.01.2016
Fußnoten:
1: Den treuen Lesern der Ortheilschen Texte sind diese Begebenheiten bekannt, da sich der Schriftsteller auf sie in seinen literarischen Werken oft bezieht. An dieser Stelle ist beispielsweise auf eine meisterhafte literarische Bearbeitung jener autobiografischen Motive zu verweisen, die der Stuttgarter in Form des 2009 publizierten Romans Die Erfindung des Lebens vorgelegt hat.
2: Ich denke hier hauptsächlich an: Venedig. Eine Verführung, Sanssouci im Carl Hanser Verlag, München/Wien 2004 (rezensiert von mir in: Studia Niemcoznawcze - Studien zur Deutschkunde, Bd. XXXV, Warszawa 2007, S. 650-651); Rom. Eine Ekstase. Mit Fotografien von Lotta und Lukas Ortheil, Sanssouci im Carl Hanser Verlag, München 2009 (rezensiert von mir in: Studia Niemcoznawcze - Studien zur Deutschkunde, Bd. XLV, Warszawa 2010, S. 595-599) und das neulich publizierte Werk Die Insel der Dolci. In den süßen Paradiesen Siziliens. Fotos von Lotta Ortheil, btb Verlag, München 2015.