Romane

Derb und drall

Kindheit und Jugend sind der Schulhof des Lebens. Kaum betreten, tauchen Gestalten und Geschehnisse auf, wie sie reger und bunter kaum sein können. So auch in dem Roman „Der wilde Sommer“ von Konrad Hansen, in dem das Leben reger und bunter ist, als es zumeist im Leben eines Jungen sein kann. Reger und bunter ist das Leben des 15jährigen nicht, weil er den unüblichen Namen Hannibal hat. Unüblich ist das Jahr, in dem der Junge zum Mann wird. Es ist das Jahr 1945.  Das Jahr, in dem endgültig alles aus den Fugen gerät in Deutschland. Selbstverständlich auch in dem schleswig-holsteinischen Ostsee-Ort, in dem Hannibal zu Hause ist.

Für Historiker ist 1945 das Jahr der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands, das Jahr des beginnenden demokratischen Neuaufbaus. Für den Erzähler Konrad Hansen ist es schlicht das Jahr des wilden Sommers. Wild ist der Sommer, weil er voller wirrer wahrhaftiger Geschichten ist. Geschichten der Zeit, die von dem deutschen Volk in der einen Vokabel zusammengefaßt werden, die Zusammenbruch heißt. In den Roman wird auf die Zeit des Zusammenbruchs zurückgeschaut. Zurückgeschaut aus der Distanz von dreienhalb Jahrzehnten, als Hannibal für einige Tage an den Ort der Kindheit und Jugend zurückkehrt. Hannibal Witt erlebt noch einmal das Jahr Fünfundvierzig. Aus der Gegenwart heraus  überschaut er die Lebens-Zeit-Läufe von Menschen, die in seiner Biographie Bedeutung hatten und haben. Der intensive Blick auf gewesene Geschichten, die kurzen Einblicke in den weiteren Lauf der Geschichten, machen den Roman zu einem Buch der Biographien der Familie Witt. Der Roman ist ein Lesebuch zu Lebensläufen einzigartiger Menschen in einzigartiger Zeit. Ein Lesebuch, das in seinen einzigartigen Geschichten genug vom Allgemeinen des Lebens und der Zeiten hat. „Der wilde Sommer“ ist kein historischer Roman. Er ist ein pointierter Roman allgegenwärtigen Lebens, in dem Roman sind, die das Leben schreibt. Vor allem die Romane des pubertierenden, den Musen zugeneigten Hannibal, der nie übersehen kann, was Geschlecht zu Geschlecht treibt und welches Treiben Geschlechtlichkeit auslöst. Hansens Roman stellt Fellinis „Amocord“ in den Schatten. Nicht nur, weil er den Film an Lustvollem übertrifft. Der Roman ist entschiedener in der Darstellung der Schweinereien der Lust. Der Schweinereien und des Schweinischen in der zügellosen, sprich recht- und ratlos gewordenen Zeit. Eine Zeit, in der Gedemütigte zu Demütigern werden, in der Gesetzesbrecher das Gesetz des Handelns bestimmen, Sieger sich wie Verlierer gebärden.

Der Schriftsteller macht es sich nicht einfach, doch er macht sich ein Vergnügen daraus zu erzählen, wie schwach der Starke wie stark der Schwache sein und werden kann. So läßt sich zeigen, daß auch Aufbruch ist, wenn allenthalben Zusammenbruch herrscht. Im Roman ist kaum etwas –wie denn auch? – vom gesellschaftlichen Aufbruch zu spüren. Die alltäglichen Einbrüche, Zusammenbrüche, Aufbrüche sind in den persönlichen Lebenssituationen, die von den chaotischen  gesellschaftlichen Situationen der Tage von 1945 bestimmt werden– oder nicht. Die persönlichen, privaten Situationen werden in den drallsten wie derbsten Szenen geschildert. Sie bestätigen ein weiteres Mal, daß Konrad Hansen einen ausgeprägten Sinn für Details hat. Details, die Alltagsgeschichten und –geschichte sinnlich, sinnreich und somit unterhaltend wiedergeben. Details, die voller Witz sind und im Witz voller Weisheit. Einer Weisheit, die der eingeschränkten Weltsicht, die mögliche wie nötige Weitsicht geben. Die präzisen Details, das Präzisieren im Detail wird am deutlichsten in den Dialogen des Romans. Konrad Hansen ist ein Meister der Dialoge. Sie haben ihren Ursprung in der Alltagssprache und werden in „Der wilde Sommer“ zu literarischen Dialogen. Das Amüsement, das der dialoggewandte Autor erzeugt, verliert sich nicht in den üppigen erzählerischen Episoden des Romans. Der erzählt die Tragödie einer Gesellschaft, die von Menschen mit komödiantischem Überlebenswillen gemeistert wird.

Bernd Heimberger
15.09.2005

 
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Das Buch:

Konrad Hansen: Der wilde Sommer. Roman aus dem Jahr 1945

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München, Zürich: Piper Verlag 2005
476 S., € 22,90
ISBN: 3-49204-708-4

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