Romane

Die phallische Austreibung

Mit einer Neuübersetzung der Florentiner Ausgabe von 1928 veröffentlicht die Reihe "Winkler Weltliteratur" einen Klassiker, der, wie es auf dem blauen Rücken des Buches heißt, "heute noch lesenswert" sein soll. Der über 400 Seiten starke Roman "Lady Chatterleys Liebhaber", der mit den bedeutungsschwangeren Worten: "Unser Zeitalter ist seinem Wesen nach ein tragisches, also weigern wir uns, es tragisch zu nehmen" beginnt, ist in jedem Fall ein rauschendes Fest der Sinne, das den Leser voll und ganz in seinen Bann zieht, ein Roman, der die Liebe zwischen Mann und Frau – bzw. den erfüllenden Sex zwischen beiden – als Heilmittel der modernen, gespaltenen Seele preist, und der gerade wegen dieser mit wiederholter Emphase beschworenen Sozialutopie Widerspruch provoziert. Nicht zuletzt, weil Frauen heutzutage sich kaum noch mit der Rolle identifizieren werden, die Lawrence ihnen in seinem metaphysischen Heilsplan zuspricht, denn nur in der absoluten Unterwerfung unter die männliche Lust werden sie solch bildmächtige Orgasmen erleben wie Lady Chatterley – andere Arten der sexuellen Befriedigung werden von Mellors, dem Wildhüter und heimlichen Geliebten der verheirateten jungen Frau, wortgewaltig abgewiesen, das Wort "lesbisch" bekommt in seinem Munde einen ekelhaften Beigeschmack.

Was Frauen brauchen, ohne es schon von selbst zu wissen, ist die "phallische Austreibung", eine "durchbohrende, verzehrende, fast grauenerregende Sinnlichkeit", die im Roman denn auch des Öfteren praktiziert wird. Demgegenüber stehen so schöne Sätze wie: "Sex ist in Wirklichkeit nur Berührung, die engste aller Berührungen. Und es ist die Berührung, die wir fürchten." Zartheit und Roheit als einander nicht ausschließende Seiten der Liebe ...

"Lady Chatterleys Liebhaber" ist, neben seinen bisweilen recht pathetischen Ausführungen über die Bedeutung der Sinnlichkeit in einer Zeit, die die Menschen mehr und mehr zu seelenlosen Maschinen herabwürdigt, vor allem eine brilliante Studie der Gesellschaftsschichten im England der 20er Jahre, deren Grundtenor der Nihilismus in einer von Geld beherrschten Welt ist. Mit scharfem Zynismus besichtigt Lawrence die intellektuelle und künstlerische Szene, die hündisch der Hure Erfolg hinterherhechelt, statt zukunftsweisende Visionen hervorzubringen. Mit der Figur des Clifford, dem auf Wragby Hall das blaue Blut in den Adern gefriert, während die letzten Zechen ihren stinkenden Qualm in die trostlose Landschaft hinausstoßen, ist ihm einer der eindringlichsten Charaktere gelungen, während Lady Chatterley, die eigentliche Protagonistin des Romans, zusehends an Wahrhaftigkeit verliert – nämlich je mehr sie sich dem vorgegebenen Schema der sexuellen Erfüllung in der Beziehung zu Mellors beugen muss.

In der Neuübersetzung wird dem Leser eine dem gegenwärtigen Sprachgebrauch behutsam angepasste Lektüre des einst skandalumwitterten Romans geboten, dessen erotische Szenen vielleicht ihre gesellschaftliche Sprengkraft, nicht aber ihren bisweilen süßen Zauber verloren haben. Sein zivilisationskritisches Raunen schließlich dürfte uns Heutigen bedenklich zeitgemäß vorkommen ...

Nicole Stöcker
01.11.2004

 
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Das Buch:

D. H. Lawrence: Lady Chatterleys Liebhaber

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Düsseldorf/Zürich: Artemis & Winkler 2004
418 S., € 19,90
ISBN: 3-538-06983-2

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