Romane

Eine richtige Familie

Die zw?lfj?hrige Lilly sitzt im trostlosen Zimmer einer kleinst?dtischen Polizeistation, bewacht von einer gleichg?ltigen Polizistin, und wartet darauf, was mit ihr geschehen wird. Direkt nach der Schule, kurz vor dem Elternhaus war das Kind unter den Augen der sensationshungrigen Nachbarschaft von der Polizei abgeholt worden, nachdem bereits ein Notarztwagen mit Blaulicht und Sirenen davon gebraust und Lillys Mutter abgef?hrt worden war. Nun, da man noch nicht so recht zu wissen scheint, was man mit ihr machen soll, hat Lilly Zeit ihre Gedanken zu ordnen und r?ckblickend die Geschehnisse zu betrachten, die zu dem Unheil gef?hrt haben, das scheinbar unmerklich ?ber ihre Familie hereingebrochen ist.

So erf?hrt der Leser durch Lillys Erinnerungen zun?chst einmal das Wichtigste ?ber ihre Familie: Da sind die noch jungen Eltern Carl und Ela, die in jugendlichem Leichtsinn vor fast dreizehn Jahren unbeabsichtigt ihre Tochter zeugten und viel zu fr?h die Elternrolle ?bernehmen mussten; wie die Familie einige Jahre weitgehend harmonisch im Elternhaus Carls lebte, wo auch die kleine Malerfirma untergebracht war, die Carl nach dem Tode des Vaters alleine weiterf?hrte. Au?erdem gibt es noch Janina, Elas Schwester, die aber nach einer ihrer zahlreichen Auseinandersetzungen den Kontakt zur Familie abgebrochen hat, und Gro?tante Bella, die immer nur tut, "was sie selber richtig findet", und wegen Elas Exzentrik keine Verbindung zu Lillys Familie sucht.

Lilly ist schon lange klar, dass ihre Eltern, die sie beim Vornamen nennt, sich sehr von den anderen Eltern im kleinen Ort unterscheiden. Vor allem Ela bem?hte sich immer, nicht so zu sein wie andere M?tter, und mit ihrem "Rabenhaar", ihrer m?dchenhaften Figur und den immer extravagant gelackten Fu?n?geln erscheint sie der Tochter als die sch?nste Frau der Welt. Auch Carl, der sich erst in seiner alten Motorradjacke aus unbeschwerten Jugendtagen richtig wohl f?hlt, verg?ttert Ela, l?sst ihr immer ihren Willen, damit sie keinen Grund hat ihm zu z?rnen, und ?berl?sst ihr g?nzlich die "F?hrung" der kleinen Familie.

Das scheinbar harmonische Zusammenleben erh?lt in Lillys Augen den ersten schweren Schlag, als sie wegen der "pl?tzlichen schweren Erkrankung" der Mutter f?r einige Monate zur Gro?tante Bella aufs Land muss. Ela hatte, wie sich dem Leser durch die von Lilly erinnerten Ereignisse erschlie?t, aufgrund schwerster Depressionen als Folge des unerf?llt gebliebenen Wunsches nach einem zweiten Kind versucht, sich das Leben zu nehmen. Nach ihrer Genesung erscheint sie Lilly sch?ner und fr?hlicher denn je und mit der ihr eigenen, egoistischen und gegen?ber anderen r?cksichtslosen Energie versucht Ela nun ihrer aller Leben neu zu beginnen. Sie will endlich eine "richtige Familie" und beschlie?t deshalb ein Pflegekind anzunehmen. Sie sucht sich in einem Kinderheim die kleine Dagmar aus, weil sie "so s??" ist, und hat fest vor, aus ihr einen gl?cklichen Menschen zu machen. So kommt Lillys kleine Schwester ins Haus und bekommt als erstes einmal einen neuen Namen, Lotta, damit sie besser zur Familie passt.

Aber die Anpassung und Formung der f?nfj?hrigen Lotta gestaltet sich schwieriger als sich das Ela, aber auch Carl und Lilly gedacht haben. Die Schwierigkeiten nehmen noch zu, als Carl aus Gesundheitsgr?nden umschulen muss und Ela beschlie?t, bei dieser Gelegenheit auch das ihr schon immer verhasste Haus mit der kleinen Firma zu verkaufen und ein neueres Haus in einer anderen Stadt zu mieten. Langsam, aber sicher und ohne dass Lilly genau festmachen k?nnte, wann diese Entwicklung begann, wird aus dem Neuanfang der Familie ein Abgleiten in Umst?nde, Handlungen und Unterlassungen, das die drei ohne fremde Hilfe nicht mehr aufhalten k?nnen. Und da es Lotta ist, an der sich alle Schwierigkeiten der Familie festzumachen scheinen, die sich Elas vor allem nach au?en gerichteten Bem?hungen widersetzt, eine "richtige" Familie zu sein, wird f?r sie schlie?lich das f?r Ela so praktische Prinzip "Aus dem Auge, aus dem Sinn" zum Verh?ngnis. Da Elas Eigensinn, Stolz und Angst vor der Blamage vor allen "Spie?ern" ?berwiegen, Carl zu schwach und unentschlossen ist und Lilly, das fr?hreife, so gut funktionierende Kind, mit ihrer wachsenden Verantwortung und ihren inneren Konflikten ?berfordert ist, kommt die Geschichte der Familie zu dem f?r den Leser vorhersehbaren, aber deswegen nicht weniger schrecklichen Ende.

Die Erz?hlung "Kleine Schwester" ist von Anfang an fesselnd, spannend und bedr?ckend zugleich. Die Autorinnen Martina Borger und Maria Elisabeth Straub lassen ihre kleine Heldin, denn das ist Lilly ohne Zweifel, ganz normale Umst?nde und Personen schildern, die sich ganz allm?hlich und kaum merklich ver?ndern. Die wahrlich nicht unsympathischen, aber in ihren Schw?chen und Abh?ngigkeiten gefangenen Eltern Ela und Carl ?berschreiten einfach nur irgendwann eine Grenze des Denkens und Handelns, ?ber die vielleicht viele von uns zumindest schon einmal einen Blick geworfen haben ? und das macht betroffen. Das kleine M?dchen Lilly, das klaglos so gro?e Verantwortung von den ?berforderten Eltern ?bernimmt, erhofft sich immer wieder Hilfe von anderen Erwachsenen. Aber sie erkennt bei allen, die ihren Weg kreuzen, seien es ihre Tanten, die Leute vom Jugendamt, ihre Lehrerin oder schlie?lich die Polizistin, dass ihr eigentlich niemand wirklich helfen will, weil jeder nur mit sich selbst besch?ftigt ist und vermeidet, sich auch noch mit Problemen anderer Leute auseinandersetzen zu m?ssen.

"Kleine Schwester" ist keine Lekt?re f?r sensible Gem?ter. In kindlich-schlichter, sehr nachdenklicher Erz?hlweise werden dem Leser Einblicke in Probleme, ja Abgr?nde zwischenmenschlicher Beziehungen und Abh?ngigkeiten dargelegt, die ergreifend und erschreckend zugleich sind. Aus ganz unschuldiger Sicht werden Situationen beschrieben, die ? ohne brutal zu sein ? in ihrer allt?glichen Grausamkeit so beklemmend sind, dass die ?ngstlichen Erwartungen des Lesers, was da noch kommen mag, den Lesefluss hemmen k?nnen. Einerseits kommt es dann nicht ganz so weit, wie man bef?rchtet, andererseits k?nnte es schlimmer eigentlich nicht mehr kommen. Vielleicht ist es das Schlimmste, dass das Kind, aus dessen Sicht alles betrachtet wird, nie anklagt, nur versucht zu erkl?ren, wo die Menschen, die es am meisten liebt, und letztendlich es selbst versagten. Es ist die stumme Hilflosigkeit und v?llige Abh?ngigkeit der Kinder von Erwachsenen, die versuchen, sie nach ihren Vorstellungen zu gestalten, die die geschilderten Ereignisse so trostlos erscheinen lassen. Und es ist Lillys Schlusssatz am Ende eines Tages voller ?ngste und Ungewissheit, der dem Leser jede Hoffnung auf einen vers?hnlichen Ausgang raubt. "Ich bin Lotta", wei? Lilly und ihr Lebensweg scheint sich schon jetzt in einem Kreis zu schlie?en.

mls
01.11.2002

 
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Das Buch:

Martina Borger / Maria Elisabeth Straub: Kleine Schwester

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Zürich: Diogenes Verlag 2002
218 S.
ISBN: 3-257-86084-6

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