Romane
Der unbesonnenen Brionys Geschichte
Ian McEwans "Abbitte" ist ein vielschichtiger, anspruchsvoller und fesselnder Roman. Der britische Autor erzählt in schönster englischer Romantradition das Schicksal dreier Menschen, verbunden mit einer wunderbaren Liebesgeschichte. Alles ist eingebettet in die Geschichte einer Familie und ihres gesellschaftlichen Umfeldes von der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen bis in die letzten Jahre des vergangenen Jahrhunderts.
Eine der drei Hauptpersonen, Briony Tallis, lädt im ersten Teil des Romans so große Schuld auf sich, dass sie ein ganzes Leben und einen ganzen Roman benötigen wird um dafür Abbitte zu leisten. Das Unheil nimmt seinen Lauf am heißesten Tag des Sommers 1935. Die dreizehnjährige Briony ist völlig gefangen in den Vorbereitungen für die Ankunft ihres fast abgöttisch verehrten Bruders und der Hitze des Tages einerseits sowie in den Wirren ihres pubertierenden Ichs und ihrem tiefen und echten schriftstellerischen Erkenntnisdrang andererseits. Da beobachtet sie zufällig eine Szene zwischen ihrer zehn Jahre älteren Schwester Cecilia und dem etwa gleichaltrigen Robbie Turner – Sohn der Putzfrau des Hauses und Gefährte der Tallis-Kinder von klein auf – am Brunnen des weitläufigen Familienbesitzes. Briony missdeutet die von ihr beobachteten Geschehnisse derart, dass sie, selbstherrlich und naiv zugleich, am Ende des langen und ereignisreichen Tages Unglück über das Liebespaar Cecilia und Robbie bringt.
Der Ablauf dieses einen schicksalsschweren Tages, mit der Ankunft der drei jugendlichen Verwandten aus dem Norden, die sich bei der Familie Tallis von den Wirren des elterlichen Scheidungskrieges erholen sollen, dem Besuch des ältesten Sohnes Leon und seines reichen Londoner Freundes und den daraus resultierenden dramatischen Ereignissen, wird, zum Teil sich überlappend, sich aber immer ergänzend aus den verschiedenen Perspektiven jeweils einer anderen Person geschildert. Die Charaktere sind individuell und vielschichtig gezeichnet, da ihre Handlungen und oft komplizierten Beweggründe dem Leser vor allem durch die Darlegung ihrer Bewusstseinsströme nahe gebracht werden sollen. Der Schauplatz – das Herrenhaus der Familie und die weitläufige Parkanlage – wird atmosphärisch dicht beschrieben und untermalt die dramatischen Vorgänge.
Im zweiten Teil des Romans sieht sich der Leser einer ergreifend realistischen, aber niemals abstoßenden Schilderung der Schrecken des 2. Weltkrieges aus der Sicht eines unmittelbar Beteiligten gegenüber. Robbie, inzwischen einfacher Soldat im ersten gescheiterten Frankreich-Feldzug des britischen Heeres, kämpft sich durch ein zerstörtes Land zur Küste vor, wo die geschlagene Armee zurück nach England verschifft werden soll. In London wartet Cecilia auf ihn – als Krankenschwester auf andere Weise, aber ebenso bedrückend von den Kriegswirren betroffen. Ihr Versprechen, immer auf ihn zu warten, ist das einzige, was den schwer verwundeten Soldaten auf den Beinen hält, ihm Hoffnung auf die Zukunft gibt und ihn nicht an der grausamen Wirklichkeit zu Grunde gehen lässt.
Auch Briony, im dritten großen Abschnitt des Romans nun eine junge Frau, lebt und arbeitet während des Krieges in London. Sie hat sich, statt wie erwartet einem Literaturstudium nachzugehen und sich ihrer Schriftstellerkarriere zu widmen, ebenfalls für die Ausbildung zur Krankenschwester entschieden. Ihre großen Schuldgefühle, das Leben ihrer Schwester und deren Geliebten aus falschen und egoistischen Beweggründen zerstört und Cecilia zur Loslösung von ihrer Familie veranlasst zu haben, ließ sie diesen Weg einschlagen. Aber als sie es schließlich schafft, ihre Schwester und Robbie noch einmal zu treffen und sich mit ihnen auszusprechen, wird ihr klar, das dieses Opfer nicht genügen wird, um ausreichend Abbitte zu leisten.
Im letzten Teil von McEwans großartigem Roman wird endgültig deutlich, wie vielschichtig sein Werk angelegt ist. Denn nun ist es Briony selbst, inzwischen eine 77-jährige erfolgreiche Schriftstellerin und im Bewusstein einer unheilbaren, deprimierenden Krankheit, die dem Leser den "Schluss" ihrer Geschichte erzählt. Letztendlich macht sie aber auch deutlich, was es mit diesem "Schluss" eigentlich auf sich hat: dass es eben "ihr" Schluss ist, "ihre" Geschichte und dass nur sie allein dafür verantwortlich ist, weil sie ihn geschaffen hat, wie sie es für richtig hielt. Das ist die Freiheit, ja die Macht, aber auch der Fluch des Schriftstellers.
Ian McEwans Roman ist vieles: eine anrührende Liebesgeschichte, die Schilderung einer Epoche, in der es auch um die Rolle der Frau in der Gesellschaft und ihr wachsendes Selbstbewusstsein geht, die ergreifende Darstellung der Schrecken eines Krieges und vor allem ein Bekenntnis des Autors zu dem Genre Roman an sich. Durch die Gedanken der jungen Briony, die verzweifelt bemüht ist, die Kunst des Schreibens zu erfassen, den verständnisvollen, wenn auch ablehnenden Brief eines Verlegers und schließlich die Erkenntnisse der erfahrenen Schriftstellerin Briony Tallis legt McEwan sozusagen seine "Romantheorie" dar. Gleichzeitig gelingt es ihm, mit seinem Werk seine Theorie überzeugend in die Praxis umzusetzen: Gedankenströme "in Worten festzuhalten", des Lesers "kindliche(m) Vergnügen an einer Geschichte" nachzukommen und dessen Wunsch "in Spannung versetzt zu werden und wissen zu wollen, was als nächstes geschieht" zu erfüllen.
mls
01.09.2002