Romane

Was Kinder denken oder: Die wundersame Wandlung der Amélie

Was macht man mit einem Baby, das nur daliegt und keine Anzeichen bietet, dass es wirklich in dieser Welt lebt? Nachdem die Eltern sicher sind, dass kein Organschaden die Ursache ist, nehmen sie das Kind, wie es ist ? es liegt einfach da und wartet. Keiner wei?, auf was. Die Frage nach dem Warum darf man schon gar nicht stellen. Und niemand ahnt, dass dieses kleine Wesen keine Zeit zum Strampeln und Zappeln, zum Lachen und Kr?hen hat. Es muss ?ber so unglaublich viele Dinge nachdenken, dass das ganze Programm f?r die Umwelt erst einmal gestrichen ist. Schlie?lich gibt es zwei Geschwister, das muss den Eltern erst einmal an Leben reichen. Und da alle Versuche fehlschlagen, das vegetative Kind ins Leben zu bringen, betrachtet die Familie es nach und nach als festen, aber ruhigen Bestandteil des Lebens.

Irgendwann allerdings passiert ein Wunder: Die Pflanze erwacht. Was sofort bereut wird, denn das M?dchen schreit fortan, wenn es nicht in einen kurzen Schlaf der Ersch?pfung versinkt. Es br?llt und kreischt ohne Ende. Wunder Nummer zwei naht in Gestalt der Oma aus Belgien. Was alle Showeinlagen s?mtlicher Familienmitglieder nicht schafften, gelingt einem kleinen St?ck belgischer Schokolade: Ruhe herrscht, denn um mehr zu bekommen, muss man reden und laufen lernen. Das alles nat?rlich ein bisschen zackiger, denn immerhin ist der R?ckstand erheblich. Aber nur ?u?erlich.Die vormalige R?hre, die nur zur Aufnahme von Nahrung und Abgabe verdauter Nahrung da war (wir verstehen nun auch den Titel), ist nach dem halben Jahr voll Wutgeschrei nun auf dem Weg ins eigene Leben. Wie nicht anders zu erwarten, passieren diesem kleinen M?dchen Dinge, die normale Kinder nicht erleben. Frage: Erleben die Kinder das wirklich nicht? Das ist die gro?e Kunst an diesem Buch ? Die Autorin stellt uns die Gedanken des S?uglings, des Kleinkindes vor Augen und niemand wei?, ob das wirklich unm?glich ist. An manchen Stellen denkt man nat?rlich "So ein Quatsch", aber dann folgt schon die Skepsis ? "w?re es denkbar, dass ...?"

Am?lie w?chst in Japan auf und das bedeutet eine ganz andere Welt als unsere. Religion, Kultur, Karpfen ? alles Herausforderungen. Gullydeckel, die pl?tzlich verschwunden sind, Kleinkinder, die den Suizid ausprobieren ? das Leben ist eine Gratwanderung zwischen Realit?t und Irrsinn. Und mit dem Tag, an dem Am?lie ein gro?es Loch im Kopf gen?ht wird, beginnt das normale Kinderleben. Das deckt sich mit der Erkenntnis von Erziehungswissenschaftlern, dass im Alter von drei Jahren das Ich im Menschen erwacht. Bei Nothomb hei?t es dazu lapidar: "Dann ist nichts weiter passiert". Wir vermuten anders.

Man mag nun inhaltlich dem Ganzen Glauben schenken oder nicht, was wirklich den Leser ins Buch zieht und dort festnagelt, ist die Sprache. Nat?rlich gehen wir Erwachsene davon aus, dass Kinder so nicht denken. Aber es ist schon enorm reizvoll anzunehmen, sie k?nnten denken, was wir bei Nothomb lesen. Beobachtung, die mit dem Seziermesser geleistet wird, eine Sprache, die vernichtende Urteile f?llt, eine Sichtweise mit Weitwinkelobjektiv. V?llig illusionslos betrachtet das Kind sein eigenes Sterben (klappt nicht in diesem Anlauf), registriert L?gen und Hilflosigkeiten der Erwachsenen mit Sch?rfe und Exaktheit und steigt dennoch langsam vom g?ttlichen Thron ins Menschenleben. Nicht ohne Protest, denn drei Jahre alt zu sein ist ein echter Schock: "Mit drei Jahren ist man ein Marsianer. Es ist sehr aufregend, aber be?ngstigend, ein eben erst auf der Erde gelandeter Marsianer zu sein. Man beobachtet Noch-nicht-Dagewesenes, Undurchschaubares. Man hat keinen Schl?ssel. Anhand von Beobachtungen allein muss man Gesetze erfinden: Das aristotelische Verfahren rund um die Uhr, was um so anstrengender ist, wenn man von den Griechen nie geh?rt hat." Wohl wahr.

In Frankreich gilt Nothomb als Bestsellerautorin. Es ist nicht unbedingt der Inhalt, aber die Sprache und die Sicht der Dinge fesseln, Abschnitte wie dieser: "In die unendliche Liste unbeantworteter Fragen ?ber die Menschheit w?re noch die folgende einzutragen: Was geht in den K?pfen wohlmeinender Eltern vor, die, nicht damit zufrieden, sich die aberwitzigsten Vorstellungen von ihren Kindern zu machen, sich auch noch herausnehmen, an ihrer Stelle die Initiative zu ergreifen?" ? dar?ber sollten wir als Eltern vielleicht schon mal nachdenken und im Hinterkopf behalten, ob unsere Kinder nicht vielleicht, unter Umst?nden, quasi schlimmstenfalls, so denken wie Nothomb uns glauben machen will ...

csc
01.04.2002

 
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Das Buch:

Amélie Nothomb: Metaphysik der Röhren

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Zürich: Diogenes Verlag 2002
159 S., € 16,90
ISBN: 3-257-06299-0

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