Romane

Leben in Lahore

Jeder Soldat der Bundeswehr, der in Afghanistan war, spricht von einem Afghanistan, von dem nicht in den Medien gesprochen wird. Was ist Afghanistan? Wie sind die Afghanen? Wir wissen es nicht. Wir ahnen, dass Afghanistan anders ist als das Afghanistan der Medien. Wer Khaled Hosseinis "Drachenläufer" gelesen, Marc Forsters gleichnamigen Film gesehen hat, versteht, was es bedeutet, Afghane zu sein und in Afghanistan zu leben. Die Kunst kann deutlich machen, was die Politik undeutlich macht. Mit "Drachenläufer" kommt man in Afghanistan an und von Afghanistan nicht wieder weg. Wer Afghanistan sagt, muss auch Pakistan sagen. Was wissen wir von Pakistan, dessen Geschicke so eng mit denen des Nachbarstaates verbunden sind? Nichts! Pakistan ist mehr als ein Land ständiger Staatsstreiche und Attentate.

Ali Sethi, ein 1984 geborener Pakistani, hat einen Roman über das Leben seiner Landsleute geschrieben, das in westlichen Breiten als literarisches Ereignis gefeiert wird. Wie der "Drachenläufer" ist Sethis "Meister der Wünsche" ein moderner Roman, der internationalen Ansprüchen genügt. Ein "Drachenläufer" ist "Meister der Wünsche" nicht. Sethi, der als Achtzehnjähriger in die USA kam und in Harvard studierte, ist ein gelernter, gebildeter Westler. Über sich selbst sagt der Schriftsteller: "Ich besuchte drei creative-writing-Kurse ..." Das Bekenntnis, das dem Autor offenbar so viel Wert ist, berechtigt zur Skepsis.

"Meister der Wünsche" ist ein konstruierter Roman. Die Sprache des Schriftstellers ist die Sprache eines Schreibers, die den Stil gefügiger Unterhaltungslektüre hat. Das ist ein Nachteil für die Literatur. Das ist ein Vorteil für die Unterhaltung. Die ist beabsichtigt, da der Autor der Welt ein unbekanntes Land bekannt machen will. Das Pakistan, mit dem Sethi bekannt macht, ist das moderne Pakistan der Privilegierten. Das Pakistan des Erzählers Zaki Shirazi, dem Alterego des Autors, ist eines, in dem Handy, Satellitenschüsseln, Videospiele selbstverständlich sind. Nichts anders in Pakistan? Wenn´s so wäre, wäre der oft weitschweifige Roman nicht lange auszuhalten.

Ali Sethi gibt sich die größte Mühe, modernes wie traditionelles Familienleben in Lohore zu schildern. Er muss kein "politisch korrekter" Autor sein. Unbekümmert kann er vom "primitiven Volk" sprechen, zu dem die Familie nicht gehört, deren Geschichte er schildert. Es sind vor allem die Frauen der Familie - also Mutter, Großmutter, Kusine -, die zu den Hauptfiguren des Romans werden. Sie vertreten nicht nur Generationen, sie sind Vertreterinnen des behinderten, geduldeten, praktizierten Wandels des gesellschaftlichen Lebens. Nichts ist selbstverständlich in Pakistan. Nicht der Feminismus. Nicht der Auf- und Ausbruch der Jugendlichen. Nicht das politische Engagement.

Wer das moderne Pakistan will, ist im Widerstand gegen das alte Pakistan. Die Vergangenheit diktiert der Gegenwart: "Für Mädchen gelten andere Regeln." Die Jugend lebt mit der Gewißheit: "Hier bei uns geschieht alles heimlich." Ali Sethi erzählt vom Heimlichen, den Gegensätzen gesellschaftlichen Seins, der Entwürdigung der Widerstehenden, dem Handeln der Hoffenden. Das geschieht in schnellwechselnden Szenen, die dem Roman die Lebhaftigkeit und so den Lesern die Leselaune erhalten.

Nicht mit Befremden, mit Bedrückung ist Pakistan zu sehen, das in Handschellen dasteht. Wie das Land von den Handschellen befreien? Auch, indem die Geschichten vom Tragen der Handschellen öffentlich gemacht werden - wie in Ali Sethis "Meister der Wünsche". Und das, obwohl bereits dem 13-jährigen Zaki eingetrichtert wird: "... aber mit Geschichten allein kommt man nicht durchs Leben." Wie aber leben ohne Geschichten?

Bernd Heimberger
22.03.2010

 
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Das Buch:

Ali Sethi: Meister der Wünsche. Aus dem Englischen Claudia Wenner

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München: dtv 2010
494 S., € 16,90
ISBN: 978-3-423-24789-4

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