Romane

Das geheime Leben der Tochter - erzählt aus Tagebüchern

Nichts ist verlockender als ein herumliegendes Tagebuch aufzuklappen und begierig zu lesen. Jede Mutter möchte schließlich wissen, was in ihrem Kind vorgeht - seine Ängste, Träume und tiefsten Geheimnisse erfahren. Und weil die Tochter (oder der Sohn) nichts von sich aus erzählt, begeht man diesen Vertrauensbruch - schließlich will man nur das Beste für sein Kind. Was tut man aber, wenn die erwachsene Tochter eines Tages vor der Tür steht, mit einer Tüte voller loser Seiten, mit ihrem Tagebuch. Aber gelesen werden darf es nicht! Eine Situation, der sich Emily stellen muss.

Wie eine fürsorgliche Mutter kann Emily nicht anders als das Tagesbuch ihrer geliebten Tochter Sappho zu lesen - der Drang ist einfach zu groß. Dabei erlebt sie Sapphos Leben aus deren Sicht und erfährt Ungeheuerliches. Die Reise beginnt mit Sapphos Studium der Literatur, als sie den Mann ihrer Dozentin Isolde kennenlernt: Gavin fasziniert Sappho vom ersten Tag, aber zu sehr liebt er seine Frau, als dass er sich auf eine heimliche Affäre einlassen würde. Stattdessen sieht er Sappho als Kindermädchen für seine Kinder Isobel und Arthur. Und in den Jahren als "Ersatzmami" geraten Sapphos Gefühle in ein einziges Wirrwarr, das sich erst mit Isoldes Tod - sie litt an einer schweren Krebserkrankung - auflösen.

Sappho und Gavin werden tatsächlich ein Paar und genießen ihre Zweisamkeit. Einzig Isobel missgönnt Sappho ihr familiäres Glück und intrigiert gegen ihre Stiefmutter. Ihrem Vater erzählt sie, dass Sappho sie nicht leiden könne und ihr nie schöne Kleider, Schmuck und teure Schuhe schenken würde. Sappho gibt trotz stiller Zweifel Gavins Wünschen nach und überlässt ihrer Stieftochter eine Kreditkarte, die diese bis zum Limit ausreizt. Alles steuert auf eine Katastrophe zu, die in einem lauten Streit und vielen Tränen ihre Auflösung findet.

Passend zu Sapphos Tagebucheinträgen gibt ihre Mutter Emily, eine Psychoanalytikerin, die den Theorien Freuds anhängt, bissige Kommentare ab. Dank Emily hat der Leser die Möglichkeit, verschiedene Ereignisse in Sapphos Leben aus zwei Sichtweisen zu betrachten und für sich so ein persönliches Bild der Dinge aufzubauen und zugleich zu hinterfragen. Wer meint, dass Emily vor Selbstkritik zurückschreckt, sieht sich hier getäuscht: Als Freudianer unterzieht sie sich selbst auch einer gewissenhaften Prüfung und offenbart dem Leser so ihr tiefstes Seelenleben und legt ihr Leben ähnlich offen dar wie Sappho in ihrem Tagebuch.

In Fay Weldons Roman "Tagebuch einer Stiefmutter" erlebt der Rezipient ein aufwühlendes und zugleich tiefgründiges Wechselbad der Gefühle, das anfangs still dahinfließt und bald zum reißenden Strom wird. Weldon offenbart mit viel Einfühlungsvermögen eine vielschichtige Beziehung zwischen Mutter und Tochter, wie sie (beinahe) jeder schon einmal erlebt hat und die trotzdem neue Facetten von Liebe (und Hass) darlegt. Das Wechselspiel aus Sapphos verträumten Tagebucheinträgen und Emilys realistischen Randbemerkungen unterhalten den Leser auf vorzügliche Weise und werfen zugleich hintergründige Lebensfragen für jeden einzelnen auf. "Tagebuch einer Stiefmutter" garantiert vergnügliche Lesestunden mit einem Hauch von packendem Zynismus und zärtlicher Liebenswürdigkeit und Nonchalance.

Susann Fleischer
04.01.2010

 
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Das Buch:

Fay Weldon: Tagebuch einer Stiefmutter. Aus dem Englischen von Henriette Sperber

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München: dtv 2009
300 S., € 14,90
ISBN: 978-3-423-24756-6

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