Romane
Das Leben in den 1970ern, wie es für eine junge Frau wirklich war
Ingolstadt, 1974: Mit bestandenem Abitur drängt es Gunda hinaus in die Welt und damit weg von der "Spießerexistenz in einer kreuzkatholischen oberbayrischen" Stadt. Es zieht die junge Frau an die Erlanger Universität. Dort, in der "exotischen Fremde", will sie, kleinbürgerlichen Verhältnissen endlich entflohen, Französisch und evangelische Theologie studieren. Aber angekommen ist sie lange nicht. Eine ganze Weile mäandert sie durch das Fächer-Angebot der Alma Mater und landet schließlich bei der Germanistik. Aus beinahe unerfindlichen Gründen bleibt sie jedoch der Theologie treu. Die Suche nach einer Antwort darauf, ob Gott tatsächlich existiert, was der Sinn des Lebens sei, erklärt das nur zum Teil.
Und wie es "der Teufel will", gerät sie recht schnell eher zufällig in marxistisch-kommunistische Studentenkreise. Die Kombination aus Flüchtlingskind (die Eltern hatten 1958 die DDR verlassen), Theologie und linker Avantgarde bergen ein gehöriges Konflikt-Potential für den weiteren Werdegang der jungen Frau.
Im Zentrum der ganzen Turbulenzen - wie sollte es anders sein - steht ein junger Mann, mit dem sie ihre erste große Liebe erlebt. Zusammen mit ihm begibt sie sich hinein in die Zeitläufte der 70er Jahre. In eine Welt von linker Revolte, Widerspruch, Frauenpower, Wohngemeinschaften und freier Liebe. Das weibliche Umfeld illustriert Gunda Möglichkeiten, wie sie ihr Leben führen kann bzw. "gesellschaftlich fortschrittlich" zu führen hat. Aber es gibt auch Frauen, die ihr zeigen, wie man bravourös scheitern kann, trotz bester Voraussetzungen an Intelligenz, Schönheit, bester Vernetzungen ...
Gunda Krüdener-Ackermann erzählt mit einer ganzen Menge Humor über diese, ihre "wilden Jahre" in den Siebzigern, die eigentlich zuweilen recht Spaß befreit daherkamen. Erhellend sind auch immer wieder Rückblenden in die eigene Kindheit der Protagonistin, die beweisen, dass etwa der Antisemitismus schon immer einen festen Platz in deutschen Wohnzimmern hatte und so ungefiltert auch Zugang in die linke Avantgarde finden konnte. Dazu auch der stete Bezug zu den damaligen politischen Begleitumständen - man denke an den Deutschen Herbst 1977.
Eines wird in diesen biographischen Betrachtungen deutlich wie auch bei Annie Ernaux oder Didier Eribon - um Gunda Krüdener-Ackermanns große französische Vorbilder zu bemühen - Privates passiert nie im luftleeren Raum, ist immer auch politisch. Am Ende dann die offene Frage, wieso eine super-gebildete, eigentlich emanzipierte Frau letztendlich doch in die ganz konventionelle Ehefalle tappt. Die Ergründung dieser Frage wäre ganz sicher eine spannende Fortsetzung dieser kurzweiligen Selbstbetrachtungen wert.
Das Buch ist in jedem Fall Literatur, die noch lange nach dem letzten Satz im Herzen und in den Gedanken des Lesers und der Leserin nachklingt. "Ein bisschen Marx und lieber Gott" ist kein Roman, den man so schnell wieder vergisst. Eher im Gegenteil! Krüdener-Ackermann beherrscht die hohe Erzählkunst wie nur wenige "Debütantinnen" auf dem deutschen Buchmarkt. Ihr Erstling ist zum einen groß(artig)e Unterhaltung, zum anderen aber auch ein Zeugnis der damaligen Zeit. Als Rezipient ist man davon einfach nur begeistert; auch weil man während der Lektüre und bei jedem einzelnen Satz sich mittendrin im Geschehen glaubt, statt nur als Beobachter am Rande.
Die deutsche Autorin schreibt lebensecht, hautnah an ihrer Protagonistin und dabei mitreißend. Da bleibt nur zu hoffen, dass es nicht bei diesem einen One-Hit-Wonder bleibt. Denn Krüdener-Ackermann hat einen festen Platz in der Literaturszene mehr als verdient!
Nicht nur für Frauen kommt Gunda Krüdener-Ackermanns "Ein bisschen Marx und lieber Gott" einer Offenbarung gleich. Auch Vertreter des männlichen Geschlechts sollten unbedingt das vorliegende Buch lesen. Nicht nur weil es vom ersten bis zum letzten Satz erstklassig unterhält, sondern vielmehr weil es das Leben von Frauen während der 1970er ungeschönt ehrlich und dabei höchstliterarisch zeigt.
Anja Rosenthal
02.09.2024