Romane

Verfolger des Vaters

Leser, die bis 1989/90 zwischen Magdeburg und Wladiwostok lebten, werden György Dragomán´s Roman «Der weiße König» anders lesen als Westeuropäer. Die «Osteuropäer» werden sich ähnlicher Erfahrungen erinnern, die gewiss keine rein zufälligen Erfahrungen waren. Sie werden an die Radsportler denken, die 1986 den Prolog der Internationalen Friedensfahrt rund um Kiew absolvierten, obwohl knapp zwei Wochen zuvor in Tschernobyl ein Atomreaktor explodiert war. Sie werden sich der täglichen Propaganda erinnern, die eine Wirklichkeit schuf, in der sie nicht lebten. Wie aber leben in der unwirklichen Wirklichkeit?

Dragomán erzählt in achtzehn dramatischen Geschichten zwei Jahre eines elf-, zwölfjährigen Jungen in der Zeit um 1986 in einem nicht genau bezeichneten osteuropäischen Land. Kindheitsgeschichte also. Zudem aus der Sicht eines äußerst achtsamen, aufgeweckten Kindes, das die Geschichte der Gesellschaft als eine Geschichte ständiger Gewalttaten erfährt. Gewalt herrscht allenthalben, bleibt niemand erspart. In der Schule werden die Jungen zum Fußballspielen hinausgeschickt. Trotz der Radioaktivität. Der Junge muss mitansehen, wie der Vater von «Kollegen» abgeholt wird, ohne zu ahnen, dass der Vater in ein Arbeitslager deportiert wird. Der Junge lernt, dass Kinderspiele Kriegsspiele sind. Lernt, dass alles Kampf ist. Der Kampf der Ungerechtigkeit gegen die Gerechtigkeit. Der Kampf der Erpresser gegen die Erpressten. Der Kampf der Mächtigen gegen die Ohnmächtigen. Die Spiele der Straße sind das Spiegelbild der herrschenden Diktatur. «Totschlagen» ist die am häufigsten gebrauchte Vokabel. Mit Totschlag drohen Erwachsene den Kindern. Kinder jagen Kindern mit dem Wort Furcht ein. Totschlag ist die Metapher für die Unmoral, die zur gesellschaftlich-politischen Moral geworden ist. Wie kann Kindheit sein, wenn Kinder in die Gewaltgeschichten der Erwachsenen hineingezogen werden? Wenn sich Kinder in gar nicht mehr so kindlichen Gewaltgeschichten wiederfinden?

Der Roman ist nicht nur ein besonders bedrängendes Beispiel einer besonders bedrückenden Kindheit, so schreckend auch viel, allzu viel in dem Buch ist. Tröstliches und Tröstendes ist in der unzerstörbaren Glaubensfähigkeit des Jungen, der die Gewissheit hat, dass sein Vater aus dem Zwangslager zurückkehren wird. Der für die Diktatur unzuverlässige Vater hat einen für die Diktatur unzuverlässigen Sohn erzogen. Sich seiner Haut zu wehren bedeutet für das Kind nicht, sich seiner natürlichen Humanität zu berauben. Umsichtig, wie der Junge ist, ist er der umsichtige Schilderer all dessen, was ihm während zweier Jahre geschieht, in denen er begreift, wer die Verderber seines Vaters sind. «Der weiße König» ist keine der üblichen Kindheits-, Jungengeschichten und auch keine der beliebigen Vater-Sohn-Geschichten.

György Dragomán's in den Details so überaus präzise Prosa ist eine erzählerische Literatur voller Poesie. Von der ersten bis zur letzten Seite ist sie ein Protest gegen jegliche Penetranz der Politik. Egal, wo sie lebten, alle Leser wird der Glaube einen, dass Gewalt nicht das Maß der Dinge, schon gar nicht menschlichen Lebens ist.

Bernd Heimberger
31.03.2008

 
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Das Buch:

György Dragomán: Der weiße König

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Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2008
293 S., € 19,80
ISBN: 978-3-518-41962-5

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