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Ein Meisterwerk der Erzählkunst

Frühling, die Kraft, die verbindet und wandelt: Was verbindet einen unbekannten Regisseur, der um verlorene Zeiten trauert, und die Angestellte eines Flüchtlingszentrums, die in modernen Zeiten gefangen ist? Was haben Katherine Mansfield und Rainer Maria Rilke mit Twitter und Fake News zu tun? Und warum schafft es ein zwölfjähriges Mädchen, verkrustete Strukturen zu sprengen und allen die Augen zu öffnen?

Wir lernen den unbekannten und erfolglosen Regisseur Richard, einen Mann mittleren Alters kennen, der in einem Bahnhof in Schottland sitzt und vergeblich auf den Zug wartet. Er schwelgt in traurigen Erinnerungen um Verlorenes und Vergangenes. Vor einigen Monaten hat er seine geliebte Freundin und Arbeitskollegin Paddy verloren. Nun denkt er unter anderem an ihr letztes Gespräch, in dem es um Rilke und um Katherine Mansfield ging, die beide, ohne sich zu kennen, gleichzeitig im selben Ort in der Schweiz gelebt haben. Richard ist verzweifelt und deprimiert. Er denkt darüber nach, sich sein trostloses Leben zu nehmen.

Dann begegnen wir Brit in ihrem harten Berufsalltag in einem Flüchtlings-/Abschiebezentrum nahe London. Sie ist dort noch nicht lange für den Sicherheitsdienst tätig und muss sich erst noch an den herablassenden Umgang mit den Flüchtlingen und an deren erschütternde Lebensgeschichten gewöhnen. Wir erleben mit, wie sie an ihrem Arbeitsplatz die 12-jährige Florence kennenlernt und sich von ihr überzeugen lässt, in einen Zug nach Schottland einzusteigen. Richard sitzt in Schottland im Bahnhof und will sich gerade vor den Zug legen und Brit und Florence sind auf dem Weg nach Schottland und kommen genau an diesem Bahnhof an ...

Literatur von solcher Grandiosität, dass es einen glatt umhaut - nichts berauscht so sehr wie die Geschichten einer Ali Smith. Diese nehmen die Sinne vollkommen gefangen, bedeuten Unterhaltung weit abseits des Mainstreams und hallen noch lange nach der Lektüre im Herzen des Lesers nach. "Frühling" gehört zu den brillantesten Juwelen im Bücherregal. Es ist ein Geschenk, diesen Roman lesen zu dürfen. Smith ist eine unvergleichliche und scharfsinnige Beobachterin. Sie experimentiert, spielt mit den Wörtern und Sätzen und schreibt kraftvoll, wortgewandt, anschaulich, ergreifend und poetisch. Jedes ihrer Bücher: ein Geniestreich!

Ali Smiths schriftstellerisches Können ist einzigartig in der Literaturwelt. Sie hat das Talent, auf hohem erzählerischem Niveau zu unterhalten und gleichzeitig politische Sachverhalte aufzugreifen bzw. unaufdringlich unterzubringen. Das macht die Lektüre von "Frühling" so reizvoll. Diese gestaltet sich als überraschend, interessant, fesselnd und emotional. Da beginnt man mit dem Lesen wieder von vorne, kaum beim letzten Satz angekommen.

Susann Fleischer
07.02.2022

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