Romane

Annäherungen an das Unfassbare

Aus der Rückschau berichtet Max Aue, promovierter Jurist und Leiter einer Textilwarenfabrik, von seinen Erlebnissen während der Zeit des Nationalsozialismus. Als hochrangiger SS-Offizier hat er mitgewirkt: an den Massenerschießungen während des Ostfeldzugs, an der Organisation der Konzentrationslager, an der Deportation der Juden aus den besetzten Gebieten, bei den Kämpfen im Kessel von Stalingrad - er hat dabei Karriere gemacht. Mehrfach für sein Engagement ausgezeichnet und bis zum Obersturmbannführer befördert gelingt es Aue am Ende des Krieges, sich abzusetzen und in Frankreich eine neue bürgerliche Existenz aufzubauen. 

Wie war das möglich? Wer waren diese Täter, die sich durch maßlose Grausamkeit hervortaten, und was trieb sie an? Seit Mitte der neunziger Jahre hat die neuere Täterforschung innerhalb der Geschichtswissenschaft damit begonnen, dies in einer multikausalen Erklärung des Holocaust zu beantworten. Neben der nationalsozialistischen Ideologie, der Struktur der Vernichtungsmaschinerie und dem Gehorsamsprinzip traten vor allem individuelle Hintergründe und Motive, Gruppendynamik, Abstumpfung, Alkoholmissbrauch und vieles mehr in den Blickpunkt. Aus dämonischen Exzesstätern und fremdbestimmten Bürokraten wurden gewöhnliche Menschen. Nach langen Jahren der Tabuisierung in Deutschland haben diese Einsichten, unter anderem 1996 in der sogenannten Goldhagen-Debatte, heftige Diskussionen ausgelöst. Monokausale Schuldzuweisungs- und damit Entschuldungsstrategien brachen in sich zusammen. Es wurde deutlich, dass weit größere Kreise der Bevölkerung als bislang angenommen nicht nur in den Holocaust verstrickt waren, sondern auch Verantwortung trugen. Haben diese Forschungsergebnisse und Diskussionen die gesellschaftliche Wahrnehmung des grauenhaften Geschehens bereits maßgeblich verändert, so leistet Jonathan Littell mit seinem monumentalen Roman „Die Wohlgesinnten“ einen weiteren bedeutenden Beitrag zur Zerschlagung kollektiver Klischees.

Dies wird gerade dadurch möglich, dass es sich um einen literarischen Text handelt, der weit größere Nähe zum Leser herstellt als wissenschaftliche Fachtexte. Indem der Obersturmbannführer zum Ich-Erzähler wird und quasi aus dem Innersten der Vernichtungsmaschinerie berichtet, rückt das Geschehen bedrückend nah und konfrontiert unmittelbar, nicht nur durch ein authentisches Porträt der Unmenschlichkeit und Brutalität von Massenmord, Sklaverei und Krieg. Die Täterperspektive ermöglicht es im Besonderen, Motivation und Bewältigungsstrategien derer aufzuzeigen und zu hinterfragen, die zentrale Verantwortung trugen. Karrieredenken, Anerkennung und Status, das Bemühen um Selbstdefinition, Identifikation und individueller Sadismus erscheinen als Antriebskräfte. Verdrängung, Entmenschlichung der Opfer, Gruppendynamik und zunehmende Abstumpfung geben sich als die Mechanismen zu erkennen, die eine Bewältigung möglich machten. Wird so zunächst ein Bild der Täter gezeichnet, das sich der anzunehmenden Wahrheit in großem Maße annähert, dann ist dies genau der Moment, an dem das Besondere des Literarischen zum Tragen kommt.

Konstatiert man Mehrdeutigkeit als zentrales Literarizitätskriterium, so eröffnet sich eine Metaebene, auf der Eigenschaften deutlich werden, die Menschen grundsätzlich zueigen sind – während des Nationalsozialismus stark im Extrem ausgeprägt –, auch heutigen Lesern von Littells Roman. Der Text leistet in dieser Form einen weiteren wichtigen Beitrag dazu, Nationalsozialismus und Holocaust aus ihrer im kollektiven Gedächtnis jahrzehntelang innegehabten extraterrestrischen Stellung zu lösen und deutlich zu machen: Es waren Menschen, die dort gehandelt und unvorstellbare Verbrechen begangen haben. Eine besonders wichtige Erkenntnis, nicht nur um zu verstehen, was passiert ist, sondern um eine Wiederholung derartigen Mordens zu vermeiden.

Es war lange Zeit für ein solches Buch. Endlich wurde es geschrieben.

Stephan Scholz
31.03.2008

 
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Das Buch:

Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten

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Berlin: Berlin Verlag 2008
1408 S., € 36,00
ISBN: 978-3-8270-0738-4

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