Romane

Beklemmend und Erschütternd

Als die Archäologin Louise Cantor von ihrer Ausgrabung in Griechenland nach Schweden reist, will sie auch ihren 25-jährigen Sohn wiedersehen. Doch als sie die Wohnung in Stockholm betritt, liegt Henrik tot im Bett. Luise glaubt nicht an einen Selbstmord. In Henriks Kleiderschrank findet sie eine Menge Material zu der Frage, warum Kennedys Hirn nach der Obduktion spurlos verschwand. War dieser junge Idealist einem kriminellen Geheimnis auf der Spur?

In Louise Cantors spannender Recherche, die sie von  Australien über Barcelona nach Maputo in Mosambik zu den Ärmsten der Aids-Kranken führt, finden die Hauptthemen in Henning Mankells Schreiben zusammen: die Aufdeckung aktueller Verbrechen in unserer Gesellschaft und die sozialen Probleme auf dem schwarzen Kontinent.

Spurensuche

Louise Cantor glaubt nicht an Henriks Selbstmord. Wieso soll ein junger Mann, der nie krank war, tot in seinem Bett liegen, noch dazu im Schlafanzug, obwohl er immer nackt schlief?  Mit ihrem mütterlichen Instinkt und archäologischen Hintergrund geht sie auf Spurensuche und muss mit jeder Scherbe, die sie aus dem Leben ihres Sohnes findet feststellen, dass sie ihn gar nicht richtig gekannt hat. Sie versucht die letzten Lebenswochen Henriks zu rekonstruieren. Die Unterlagen von dem unerklärlichen Verschwinden des Gehirns Präsident Kennedys und Briefe von Aids-kranken Frauen verwirren sie.  Sie sucht Henriks Vater Aron, ihren geschiedenen Mann, den sie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion im australischen Busch aufspürt. Gemeinsam finden sie Hinweise auf ein Doppelleben in dessen Wohnung in Barcelona. Doch Louise muss alleine nach Maputo weiterreisen, weil Aron plötzlich verschwindet. In Mosambik trifft sie eine Freundin von Henrik, eine Prostituierte, die ihr weiterhilft. Bei ihrer Recherche stößt sie auf das Asyllager einer humanitären Organisation, die sich der Pflege Aids-Kranker verschrieben haben will. Louise vermutet dunkle Hintergründe und schon bald wird ihr brutal deutlich, dass Henrik einem Skandal nachspürte: menschenverachtenden Impfstofftests in Geheimlabors, zynischen Diplomaten, Drogenschmuggel. Profitgierige Geschäftemacher wollen aus dem Elend der Armen Kapital schlagen.

Louises Suche bleibt nicht unbeobachtet und Menschen sterben, auch Aron, die die Rätsel lösen könnten. So bleiben ihre letzten Fragen unbeantwortet und sie kehrt zurück nach Schweden.

Ende offen

Henning Mankell, der die Hälfte des Jahres in Mosambik verbringt, hat diesen Roman „im Zorn“ geschrieben. Er fasst seine Empörung über das selbst erlebte Unrecht in Worte und entwirft ein erschütterndes und beklemmendes Szenario über Machenschaften unter dem Deckmantel der Nächstenliebe. Der Roman ist Fiktion, es werden jedoch Dinge benannt, die so auch real geschehen könnten in einem Kontinent, der allmählich ausstirbt. Mankell benennt nichts genau, es fallen keine Namen, Fakten werden nicht geliefert. Es bleibt dem Leser überlassen, die Fragmente aufzunehmen und zu einem vollständigen Ganzen zusammen zu fügen.

Mit Louise Cantor bietet Mankell einen weiteren erschütternden Erzählstrang. Sie steht durch den Tod ihres Sohnes  nun vor dem eigenen Lebensscherbenhaufen. Nichts ist mehr so, wie sie es geglaubt hat. Einzig ihr alter Vater Artur bleibt wie er immer war und kann sie trösten. Ihre Verzweiflung über den Tod des Sohnes wird spürbar in der akribischen Recherche. Doch sie muss mit jedem neugefundenen Puzzle-Steinchen immer deutlicher feststellen, dass ihre Vorstellungen, das Bild von ihrem Sohn,  selber nur ein winziger Ausschnitt seines Lebens war. Mankell beschreibt ihre Annäherung, Scherbe für Scherbe, Stein für Stein, Schritt für Schritt. Sie formt zum Schluss ein neues Bild auch ihres Lebens, mit dem sie weiterleben kann.

Mankell überzeugt  mit seiner präzisen Erzähltechnik, seinen kurzen prägnanten Sätzen, die uns aus seinen Wallander-Romanen bekannt sind. Überraschend neu ist die sensible Frau als Protagonistin, der Wechsel des Blickwinkels aus Schwedens Distanz in diese hautnahe Konfrontation und die Kombination mit dem Elend und den Verbrechen der Welt. So wenig wie Louise  entlässt Mankell uns in unsere Normalität. Wer einen Krimi erwartet, der ‚nur‘ unterhält, wird enttäuscht sein. Hier geht zu vieles direkt unter die Haut. Mankell scheint uns zum Handeln, zum genauen Hinsehen und Untersuchen auf zu fordern. Und dann auch wieder nicht. Alles bleibt offen. Wir können uns Louise anschließen oder zurücklehnen und den „neuen Mankell“ einfach nur genießen, oder …

Angela Lorenz-Ridderbecks
25.02.2008

 
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Das Buch:

Henning Mankell: Kennedys Hirn (Taschenbuch)

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München: dtv 2008
400 S., € 9,95
ISBN: 978-3423210256

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