Romane
Hannah Kents neuer Roman - Lesegenuss pur
County Kerry, Irland, 1825/1826: Erst vor wenigen Monaten hat die Bäuerin Nóra ihre geliebte Tochter zu Graben tragen müssen. Da ereilt sie erneut ein schlimmer Schicksalsschlag. Bei der Feldarbeit bricht Nóras Ehemann tot zusammen. Nun ist Nóra auf sich allein gestellt mit der Erziehung ihres Enkelsohns Micheál. Der Vierjährige kann weder sprechen noch laufen. Nóra versucht verzweifelt herauszufinden, was mit ihm nicht stimmt. Was geschah nur mit dem gesunden, fröhlichen Jungen, den sie kennenlernte, als ihre Tochter noch lebte? Die Dorfbewohner glauben, dass Nóras Tochter nicht von Gott, sondern von den Feen geholt wurde, und der Micheál bei Nóra wäre ein Wechselbalg. Sie sagen, das ganze Unglück im Tal sei seine Schuld.
Da tritt Mary in Nóra Leben. Sie geht ihr mit Micheál zur Hand. Mary gibt nichts auf das Gerede, dass Micheál die Kühe krank mache und dass wegen ihm eine der Dorffrauen ihr ungeborenes Kind verloren haben soll. In Nóra hingegen reift ein ungeheuerlicher Gedanke: Wenn es ihr gelingt, die Fee aus Micheál zu vertreiben, würde sie ihren gesunden Enkel wiederbekommen und endlich wieder eine echte Familie haben. Getrieben von Angst und Aberglaube und unterstützt durch die geheimnisvolle Kräuterfrau Nance, die vom Dorfpfarrer als Hexe beschuldigt wird, ist sie bald bereit, alles zu versuchen. Und Mary fällt es immer schwerer, sich gegen die beiden Frauen durchzusetzen. Der Pfad, auf den Nóra wandelt, führt unaufhaltsam abwärts ...
Ein literarisches Meisterwerk, so poetisch schön und zugleich angsteinflößend wie Nathaniel Hawthornes "Der scharlachrote Buchstabe" - mehr Emotionen, mehr Spannung als in "Wo die Flüsse sich kreuzen" findet man nur selten zwischen zwei Buchdeckeln. Hannah Kents Romane zeugen von hoher Schreibkunst. So grandios wie kaum jemandem sonst gelingt es ihr erneut, eine grausame und wahre Geschichte eindringlich zu erzählen. Die raue Schönheit Irlands verschmilzt mit dem Seelenleben ihrer Figuren, die dem Leser, wie schon in ihrem Debüt "Das Seelenhaus", ganz nahe kommen. Nach nur wenigen Sätzen verliert man sich mit allen Sinnen in der Story und vergisst über dieses Historienerlebnis die Welt vollkommen um sich herum.
"Wo drei Flüsse sich kreuzen" von Hannah Kent ist ein mitreißendes Drama um die Macht von Angst und Aberglaube, basierend auf einer wahren Geschichte aus dem 19. Jahrhundert. Und außerdem der Beweis, dass die Autorin in die Top-Liga von Australiens Schriftstellern gehört. Ohne jeden Zweifel: Solches Gefühlskino gelänge nur den wenigsten. Kents Bücher bedeutet ein Leserausch ohnegleichen.
Susann Fleischer
04.09.2017