Krimis & Thriller

Geheimnisvolle Heide

Eines nebligen Herbsttages schlägt die 55-jährige Maria Anderson mit ihrem Hund Castor in dem Heidedörfchen Winsford auf. Die Menschen in dieser einsamen Gegend im Südwesten Englands hegen zunächst kaum Skepsis gegenüber der plötzlich auftauchenden Schwedin. Doch wer begibt sich schon aus freien Stücken in die Einöde, um dort den Winter zu verbringen? Maria knüpft nach und nach Kontakte mit den Einheimischen, die Fragen nach ihren Beweggründen jedoch bleiben entweder unausgesprochen oder werden von Maria mit einfachen Antworten bedient. Angeblich sei sie eine Schriftstellerin, die der benötigten Kreativität wegen für ein halbes Jahr zurückgezogen leben möchte. Doch in Wahrheit hütet Maria eine Menge Geheimnisse, die sie hofft, in Winsford sortiert zu bekommen.

Der schwedische Romanautor Håkan Nesser gehört seit vielen Jahren zur schriftstellerischen Oberschicht im Krimi-Paradies Schweden. Anders als seine Landsleute Henning Mankell oder Stieg Larsson bedient er allerdings nicht gänzlich eindeutig das Krimi-Genre. Nesser ist eher der Mann der feinen Stimmung, dem es immer wieder gelingt, eine Atmosphäre zu schaffen, die nicht viele Action-Sequenzen benötigt, um den Leser in Spannung zu versetzen. Während seine Van-Veeteren-Romane aus den Neunziger Jahren noch eher dem klassischen Krimi-Genre zuzuordnen waren, hat er mit der vor zwei Jahren abgeschlossenen Reihe um Kommissar Barbarotti schon begonnen, deutlich leisere Töne anzuschlagen.

Neben seinen beiden Kult-Reihen hat Nesser auch einige Einzelwerke geschaffen, die bereits heute nicht mehr aus der skandinavischen Literatur wegzudenken sind. "Kim Novak badete nie im See Genezareth" ist hier sicherlich als Nessers Gallionsfigur zu nennen. Doch gerade außerhalb seiner Reihen hatte Nesser in den vergangenen Jahren auch einige Luftnummern produziert, so dass sich selbst seine größten Fans arg enttäuscht über Romane wie "Die Perspektive des Gärtners" oder "Himmel über London" zeigten. Entsprechend gespannt war man daher nun ob der Ankündigung seines neuesten Romans "Die Lebenden und Toten von Winsford".

Um es vorwegzunehmen, Nesser hat seine Lektionen aus obigen Misserfolgen gelernt. Für einen 64-jährigen Platzhirsch ist dies definitiv als Kompliment zu werten. Für das vorliegende Buch hat er einen parallelen Aufbau gewählt, in dem sich in der ersten Hälfte des Buches die Beschreibungen von Marias Ankunft in der englischen Provinz im Hier und Jetzt mit Rückblenden aus ihrem bisherigen Leben abwechseln. Der Leser bekommt peu à peu eine Ahnung davon, auf welches Szenario die Erzählung von Marias Ehe mit dem Schriftsteller Martin Hollinek hinauslaufen könnte. Nachdem Nesser diesen Spannungspunkt fulminant platziert hat, widmet er sich wieder Maria und ihren Recherchen über eine Episode in Martins jungen Jahren, die ein weiteres schreckliches Geheimnis zu bergen scheint.

Als Leser wundert man sich staunend darüber, wie Nesser es immer wieder gelingt, mit geringen Mitteln einen simplen, aber zugleich die Nerven aufs Äußerste strapazierenden Plot zu kreieren, der kaum ein Durchatmen erlaubt und einen dazu anhält, Seite um Seite zu verschlingen, obgleich die Handlung kaum vorwärts zu gehen scheint. "Die Lebenden und Toten von Winsford" ist ein solches Buch, das von Freunden unkomplizierter Handlungsstränge geliebt werden wird. Håkan Nesser kommt einem DJ am Mischpult gleich, der mit leiser Musik die Masse in Ekstase versetzt und nur dann und wann ganz bedächtig die Regler betätigt, um die alles entscheidenden Impulse zu setzen.

Christoph Mahnel
27.10.2014

 
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Das Buch:

Håkan Nesser: Die Lebenden und Toten von Winsford

München: btb Verlag 2014
464 S., € 19,99 Euro
ISBN 13: 978-3-442-75449-6

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