Krimis & Thriller

Lahmende Legende

In Schweden verschwinden en masse Literaten. Zunächst verlässt der erfolgreiche Autor Franz J. Lunde die Bildfläche. Er hatte jüngst ein Buch über den perfekten Mord geschrieben und war bei einigen seiner letzten Lesungen von ein und derselben Zuhörerin dazu mehrfach penetrant befragt worden. Wer ist diese ominöse Dame? Eine Rächerin, die mehr als nur eine clevere Geschichte in Lundes Buch argwöhnte? Kurz danach ist es die Lyrikerin Maria Green, die von einem auf den anderen Tag unauffindbar ist. Doch damit nicht gut, denn ein knappes halbes Jahr später erscheint der Literaturkritiker Jack Walde nicht zu einer Verabredung mit seinem Sohn. Walde wiederum wusste als Ekel des schwedischen Feuilletons um eine Vielzahl von Feinden, die ihm zwar nicht unbedingt den Tod wünschten, aber sich sicherlich glücklich schätzten, wenn Walde zumindest kaltgestellt wäre.

Da sich die beiden ersten Vermisstenfälle in Kymlinge zutrugen, fallen diese in den Zuständigkeitsbereich von Kommissar Gunnar Barbarotti. Der gottgläubige Verbrechensaufklärer ist Ende 2019 allerdings in keiner guten Verfassung. Seine zweite Frau und Kollegin Eva Backman weilt gerade seit einiger Zeit in Australien, um dort bei einer privaten Verstrickung ihres erwachsenen Sohnes aus früherer Ehe zu unterstützen. Doch stellt währenddessen Backman auch ihre Beziehung zu Barbarotti zwischenzeitlich in Frage. Dazu setzt rund um das Verschwinden des dritten Literaten die weltweite Corona-Krise ein, was die schleppende Ermittlungsarbeit Barbarottis bisweilen auf ein neues Level der Absurdität hievt.

Kymlinge, Gunnar Barbarotti und mögliche mysteriöse Verbrechen: Willkommen in der Welt des Håkan Nesser! Ihn selbst als eine schwedische Schriftstellerlegende zu bezeichnen, ist sicherlich nicht übertrieben. Zusammen mit dem bereits verstorbenen Henning Mankell bildet er die Speerspitze der sich seit mittlerweile einigen Jahrzehnten auf dem Höhenflug befindlichen schwedischen Kriminalliteratur. Seine Van-Veeteren-Romane, der Klassiker "Kim Novak badete nie im See von Genezareth" und auch die noch laufende Reihe um Gunnar Barbarotti gehören zum Aushängerepertoire dieses Genres. Nun liegt mit "Schach unter dem Vulkan" Band Numero Sieben mit Barbarotti vor. Eigentlich hatte Nesser diese Reihe mal auf fünf Bände begrenzt und anno 2012 mit "Am Abend des Mordes" punktgenau zum Abschluss gebracht. Doch scheint Nesser die Figur seines Protagonisten noch nicht zu Ende erzählt zu haben, so dass er acht Jahre später die Reihe wiederbelebte und nun schon mit einer zweiten Fortsetzung versehen hat.

Nesser hat sich im vorliegenden Roman daran gewagt, die Corona-Krise nicht nur zu streifen, sondern recht prominent in die Handlung zu integrieren. Sie ist unter anderem Hauptthema in den Konversationen zwischen den handelnden Personen, also durchaus ein Abbild des realen Lebens. Doch ist es das, was Nessers Leser tatsächlich vorfinden wollen, wenn sie den Fernseher ausgeschaltet und die Tageszeitung beiseitegelegt haben? Es wird weiterhin ein Drahtseilakt bleiben, wie Autoren in der kommenden Zeit mit Corona und seiner Dominanz in Alltag und Gesellschaft ab Anfang 2020 umgehen. Für eine gewisse Periode wird man die Handlungen sicherlich zeitlich noch geschickt so allokieren können, um Corona zu ignorieren, doch irgendwann wird man nicht mehr umhinkommen, entweder eine realitätsfremde Ausblendung des Themas vorzunehmen oder es angemessen einzuflechten.

Wer bei "Schach unter dem Vulkan" spontan an Bobby Fischers Weltmeisterschaftskampf auf Island denkt, liegt komplett daneben. Der Titel wird in diesem Buch nur kurz gestreift, und zwar als Analogie zur Sinnlosigkeit, den vorliegenden Fall im Schatten von Corona aufzuklären. Dies erscheint Barbarotti nämlich genau so sinnlos, wie ein Schachproblem am Fuße eines Vulkans bei dessen Ausbruch zu lösen. Ähnlich unbedeutend fühlt sich allerdings auch der Leser während der ersten zwei Drittel dieses Buchs. Sehr schleppend, langatmig und mit wenig Vortrieb versehen werden die drei im Verschwinden begriffenen Literaten eingeführt, beschrieben und wieder aus der Szenerie herauskomplimentiert. Selbst eingefleischte Nesser-Fans werden bei dieser Durststrecke viel Sitzfleisch verwenden müssen, um dranzubleiben. Erst im letzten Drittel nimmt "Schach unter dem Vulkan" Fahrt auf und Barbarotti spielt sich in gewohnter Manier mit seiner Frau und weiteren Kollegen intelligent Gedanken und Bälle zu, so dass man das Buch am Ende doch mit einem guten Gefühl und zumindest einer gewissen Glückseligkeit schließt.

Christoph Mahnel 
03.01.2022

 
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Das Buch:

Håkan Nesser: Schach unter dem Vulkan. Aus dem Schwedischen von Paul Berf

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München: btb Verlag 2021 432 S., € 22,00 ISBN: 978-3-442-75936-1

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