Krimis & Thriller
Sind so kleine Hände
Ein kleiner Junge wird in kritischem Zustand von seiner hysterischen Familie in ein Osloer Krankenhaus gebracht. Haavard, der diensthabende Arzt, und sein Team können dem Jungen leider nicht mehr helfen, so dass dieser kurz nach der Einlieferung verstirbt. Zu seinem Tod haben offensichtlich viele aus Gewalteinwirkungen herrührende Verletzungen beigetragen. Haavard verdächtigt sogleich den sehr aggressiv auftretenden Vater des Jungen. Zu einer Konfrontation mit den Vermutungen kommt es allerdings nicht mehr, da der Vater kurz nach dem Ableben seines Sohnes noch auf dem Klinikgelände ermordet wird. Es ist nicht der erste Fall von schwerer Kindesmisshandlung, den Haavard in seinem Ärzteleben beobachtet hat. Er führt sogar eine Liste über derartige Fälle. So kommt es kurze Zeit später zu einem weiteren Mord an einer Person auf Haavards Liste, was den Fokus der Ermittler auf ihn und seine Kollegen richtet.
Haavards Familie ließe sich eigentlich als Vorzeigefamilie bezeichnen, er ein angesehener Arzt, zwei Söhne und eine Frau, die sich gerade anschickt, im Justizministerium Karriere zu machen. Sehr intensiv hat sie in den vergangenen Wochen und Monaten an einer Gesetzesvorlage gearbeitet, um Kindesmisshandlungen früher erkennen und eindämmen sowie Täter härter bestrafen zu können. Insofern haben Haavard und Clara ein gemeinsames Thema, das sie bewegt und antreibt. Dennoch ist es um die Ehe der beiden schlecht bestellt. Clara hat sich über die Jahre immer tiefer in ihre Arbeit gestürzt und begegnet Haavard nur noch unterkühlt, letzterer holt sich Nähe und Wärme anderweitig. Nachdem Haavard die Mordvorwürfe gegen ihn hat abwehren können, versucht er verstärkt, seiner Frau näher zu kommen und erfährt dabei Dinge, die ihm bis dato völlig unbekannt waren. Er begreift, dass er seine Frau nur verstehen wird, wenn er zu ihrer Kindheit durchdringt, in der scheinbar Grausames passiert sein muss, was Clara zu der unterkühlten und berechnenden Frau hat werden lassen, der er sich nun gegenübersieht.
"Tiefer Fjord" lautet der deutsche Titel des Psychothrillers der norwegischen Schriftstellerin Ruth Lillegraven. Es ist ihr erstes Werk, das hierzulande auf den Markt gekommen ist. Sie selbst hat einen beruflichen Hintergrund in einem politischen Ministerium, ganz wie ihre Protagonistin Clara. Seit einigen Jahren macht sie sich als Lyrikerin und Schriftstellerin verdient. Der vorliegende, im Jahre 2018 im norwegischen Original erschienene Thriller ist ihr erstes Werk in diesem Genre. Man kann ihr sogleich testieren, dass sie die Strukturierung ihres Buches sehr gelungen auf eine hervorragende Lesbarkeit hin ausgerichtet hat. Gegliedert in einen Prolog und 75 kurz gehaltene Kapitel sorgt dies für eine ausgewogene Abwechslung zwischen den einzelnen Schauplätzen. Dabei erzählt sie durchgängig aus der "Ich"-Perspektive, wobei der Name in der jeweiligen Kapitelüberschrift, teilweise sogar noch um eine Jahreszahl ergänzt, den Leser direkt einnordet und ihn sich in die betroffene Person versetzen lässt.
Lillegraven hat ein sehr brisantes und unter die Haut gehendes Thema für ihr Thriller-Debüt gewählt. Gewalt gegenüber Kindern, die so weit geht, dass Gefahr für Leib und Leben besteht, ist beileibe kein leicht verdauliches Thema. Sie schafft es, ihre Leser zu emotionalisieren, ohne dabei allzu sehr in Details abzutauchen. Man kann also gut und gerne die Handlungen von Haavard und Clara bis zu einem gewissen Maße nachvollziehen. Allerdings ist sie nahe daran, im Handlungsablauf den Bogen hier und da zu überspannen, schafft es aber immer gerade noch, die Aktivitäten der Protagonisten nachvollziehbar sein zu lassen. Eine absolute Meisterleistung der Autorin ist es, die vielschichtigen Handlungsstränge aus verschiedenen Zeitebenen sauber zu separieren, dass es dem Lesegenuss keinen Abbruch tut. Insgesamt sorgt sie mit ihrem Schreibstil dafür, dass die 400 Seiten des vorliegenden Buches wie im Rausch verfliegen und die Lesegeschwindigkeit Spitzenwerte erreicht.
"Tiefer Fjord" hat alles, was einen Bestseller aus dem obersten Regal auszeichnet: Ein Grundthema, das einem noch lange nach der letzten Seite nachhängt, dazu Dramatik und Dynamik als großer Verdienst der Schriftstellerin, Hauptdarsteller mit Stärken und Schwächen, Familientragödien, die sich über Generationen zu vererben scheinen, und einige Stunden allerbester Leseunterhaltung. Ruth Lillegraven hat sich mit diesem Buch in die vorderste Reihe skandinavischer Thriller-Autoren katapultiert. Man darf mehr als gespannt sein, was von ihr in den nächsten Jahren noch alles kommen wird. Spannung und Kurzweil dürften garantiert sein!
Christoph Mahnel
01.11.2021