Kinder- & Jugendbücher

Ein jüdisches Mädchen und sein Neubeginn in einem fremden Land

Als im Jahre 1933 Adolf Hitler als Reichskanzler von Deutschland eingesetzt wurde, konnte noch niemand ahnen, dass dies nicht nur zum Zweiten Weltkrieg, sondern auch zur Verfolgung, Vertreibung und Tötung der Juden in ganz Europa führen würde. Die Reichsprogomnacht vom 09. zum 10. November 1938 führte dazu, dass die Juden fortan um ihr Leben fürchten mussten. Da nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder verfolgt wurden, gab es die sogenannten Kindertransporte, mit denen Kinder zwischen Ende November 1938 bis zum 1. September 1939 nach Großbritannien gebracht wurden, so auch die elfjährige Franziska Mangold in Anne C. Voorhoeves Jugendbuch "Liverpool Street".

Franziska, die von allen nur Ziska genannt wird, lebt um 1938 in Berlin. Sie darf zwar nicht mehr in die örtliche Schule gehen und wird von anderen Kindern verprügelt, aber noch kann sie mit ihrer besten, gleichaltrigen Freundin Bekka Liebich spielen und fröhliche Nachmittage verleben. Bis es eines Abends zur Katastrophe kommt, als zwei deutsche Offiziere Ziskas Vater in ein Gefängnis mitnehmen, wo er für lange Zeit eingesperrt wird. In dieser ausweglosen Lage erfährt Ziska von Bekka, dass es Kindertransporte gibt, die jüdische Kinder aus Nazi-Deutschland herausschmuggeln, damit sie in Großbritannien vor Verfolgung und Tod sicher sind. Und so beschließt Ziskas Mutter, ihre einzige Tochter fortzuschaffen, um sie auf der Insel in Sicherheit zu wissen. Da hilft auch kein Zetern und Jammern, Ziska muss sich dem fügen und reist nach Großbritannien, um dort von einer fremden Familie aufgenommen zu werden.

Kaum ist Ziska in dem unbekannten Land angekommen, muss sie nach der Enttäuschung der Abschiebung durch ihre eigene Mutter eine zweite erleben: Die zukünftige Pflegefamilie Winterbottom hat offenbar ihre Meinung geändert und holt Ziska nicht vom Londoner Bahnhof Liverpool Street ab. Stattdessen wird die Neuengländerin in einer Art Kinderheim untergebracht. Dort verlebt sie ihre Tage, bis sie beschließt, sich ihre neue Familie selbst zu suchen. Und recht schnell stellt sich heraus, dass die gut situierten Shepards die Richtigen sind.

Nachdem Dr. Shepard und dessen Sohn Gary sich für Ziska entschieden haben, kann für das junge Mädchen ein neues Leben beginnen. Ab sofort heißt sie Frances und wird von ihrem "Bruder" Gary wie eine kleine Schwester geliebt. Wäre da nicht Ziskas Pflegemutter Amanda Shepard: Sie wollte lieber einen Jungen adoptieren. Nach diesen anfänglichen Problemen kommen sich die beiden Frauen jedoch langsam näher. Und Ziska wird ein neues Leben ermöglicht, wenn sie wieder in die Schule gehen kann, andere Menschen kennenlernt und fröhlich ist. Und ganz nebenbei lernt sie vieles über die jüdischen Rituale, die zu einem Umbruch in Ziskas Denken führen.

Die Situation verändert sich, als die Deutschen im September 1939 in Polen einmarschieren. Ziska ist fortan in London nicht mehr sicher und muss deshalb aus der Stadt gebracht und von ihrer Pflegefamilie getrennt werden. Auf dem englischen Land ist sie (angeblich) in Sicherheit. Glücklicherweise ist die Trennung zwischen Ziska und den Shepards nur von kurzer Dauer, als Amanda persönlich ihre Pflegetochter abholt. Und so beginnt nun eine Zeit zwischen Angst, Hoffen und Bangen. Ziska verlebt ihre Tage in London, das ständig von den Deutschen bombardiert wird. Zudem gibt es da noch die Angst um ihre Familie auf dem Kontinent. Diese konnte zwar aus Nazi-Deutschland fliehen, aber die Niederlande, wo sie sich versteckt halten, ist inzwischen von den Deutschen besetzt worden. Und so muss erst der Krieg beendet werden, um Ziska ein neues, unbeschwertes Leben zu ermöglichen. Und als es schließlich soweit ist, steht die inzwischen 17-Jährige vor einer neuen Entscheidung: Bleibt sie in London, wo sie sich wohlfühlt und eines Tages eine Familie gründen könnte? Oder kehrt sie zurück zu ihrer Mutter, die ihre Tochter seit beinahe sieben Jahren nicht mehr gesehen hat? Nur sie allein kann diese Entscheidung fällen.

Anne C. Voorhoeve ist mit dem Jugendbuch "Liverpool Street" ein sehr eindrucksvolles Werk über ein junges, freches Mädchen gelungen. Dabei reift die aufsässige Ziska zu einer jungen selbstbewussten Frau heran, die sich ein eigenes Leben aufgebaut hat und sich ihrer Vergangenheit durchaus bewusst ist. Ziskas innerer Konflikt zwischen ihrer leiblichen Familie in Deutschland und ihrer Pflegefamilie in London vermag Voorhoeve vorsichtig und doch sehr eindringlich herauszuheben, ohne dass der jugendliche Leser eine Antipathie für Ziska entwickeln könnte. Stattdessen versetzt man sich so eindringlich in Ziskas Lage, dass man mit ihr die Tränen wegen all der lieben verstorbenen Menschen weint.

Anne C. Voorhoeve verwebt geschickt und auf sehr einfühlsame Weise das Schicksal einer erfundenen Figur mit tatsächlichen geschichtlichen Ereignissen. So erlebt der Rezipient nicht nur Abenteuer mit Ziska, sondern ihm werden zudem geschichtlich relevante Kenntnisse vermittelt, ohne den Anschein einer Geschichtsstunde zu erwecken. Und ganz nebenbei wird dem Leser das Judentum näher gebracht, sodass der Rezipient in diesem Bereich viel dazulernt. Da verwundert es nicht, dass "Liverpool Street" im Jahre 2007 mit dem "Buxtehuder Bullen" als bestes Jugendbuch des Jahres ausgezeichnet worden ist. Es zeigt nämlich Jugendlichen auf, dass die damaligen grausamen Geschehnisse weiter aktuell sind und sorgt weiterhin dafür, dass sie nicht in Vergessenheit geraten, indem das Buch die Augen für vergangene und gegenwärtige Ungerechtigkeit öffnet.

Susann Fleischer
02.06.2009

 
Diese Rezension bookmarken:

Das Buch:

Anne C. Voorhoeve: Liverpool Street

CMS_IMGTITLE[1]

Ravensburg: Ravensburger Buchverlag 2007
576 S., € 8,95
ab 14 Jahren
ISBN: 978-3-473-58296-9

Diesen Titel

Logo von Amazon.de: Diesen Titel können Sie über diesen Link bei Amazon bestellen.