Kinder- & Jugendbücher

Die Macht der Fantasie

Die Lingenbande ist berühmt. Tausende von Kindern fiebern bei den Abenteuern mit, die Siegfried, Greta, Anna und Dieter bestehen müssen. Ihr Schöpfer ist der Schriftsteller Axel Hoffen, er denkt sich ihre Welt aus. Hoffen ist Schriftsteller in einer Zeit, in der die politischen Machthaber ihren Einfluss vor allem auch auf die Welt der Bücher ausdehnen möchten. Durch die Kinderliteratur soll das braune Gedankengut in die Köpfe transportiert werden, subtile Unterwanderung auf allen Ebenen, ebenso in diesem Bereich. Hoffen aber erweist sich als wenig einsichtig diesem Ansinnen der neuen Herrscher gegenüber. Er besteht darauf, dass Anna, die Jüdin, in der Bande ebenso bleibt wie der einarmige Dieter, der in der neuen Gesellschaft als Krüppel am Rand steht. Axel Hoffen bekommt in seiner kargen Schreiberbude Besuch von den braunen Herren. Man versucht ihn zu überzeugen, sein nächstes Abenteuer ein wenig mehr im Sinne des neuen "Geistes" zu formulieren. Eine Flucht des Autors gelingt nicht, doch er weigert sich, seinen Figuren ein ungewolltes Gewand überzuzwängen und bezahlt im Gefängnis teuer für diese Haltung.

Hans Gott ist ein armer Mann. Er hat nichts zu verlieren, als ihn die Nazis "überzeugen", Hoffens Werk in ihrem Sinne fortzuführen, eine Wahl bleibt ihm überdies nicht. So macht sich Gott daran, die Lingenbande in ein neues Abenteuer zu führen, eines, in dem Anna sich als böse und verschlagen, Dieter als pure Belastung, Siegried und Greta aber als die Vorzeigearier überhaupt erweisen sollen.

Nun aber passiert etwas Unglaubliches: Siegfried, Anführer der Bande, erwacht. Nicht ungewöhnlich, aber er erwacht ins richtige Leben. Er findet sich in einem Raum wieder mit Türen – eine Tür führt zum Autor Axel Hoffen, eine andere Tür in das Zimmer von Hans Gott, die dritte in die Geschichte. Und nun beginnt ein Kampf, der aussichtslos erscheint und der symptomatisch ist für den Mut und die Überzeugungskraft vieler Menschen dieser Jahre, die für freien Geist, für ein Miteinander, für Menschlichkeit jenseits aller politischen, religiösen und sonstigen Grenzen eintraten. Siegfried gelingt es, dass sich die Geschichte erneut verändert – hin zum Guten, dass Hoffens Ideen weitergetragen werden und die anderen Bandenmitglieder ebenfalls zum Leben erwachen. Doch bis das soweit gediehen ist, müssen die beiden Autoren und die vier jugendlichen Hauptdarsteller oft durch Türen gehen – zwischen den Welten, zwischen den Zeiten, hin- und hergerissen zwischen Ideologien, Angst und einem sehr klaren Blick auf die Verbrechen, die geschehen.

Am Ende hat die Botschaft der Phantasie gesiegt und an vier ganz unterschiedlichen Orten auf der Welt erfahren Menschen plötzlich, dass sie tiefen inneren Frieden finden beim Lesen einer kleinen Zeitungsnotiz – beim Einreißen der Berliner Mauer fanden Arbeiter eine Bleischatulle mit der Aufschrift "Lies das Buch. 1934", in der das maschinengeschriebene unvollendete Manuskript mit dem "Letzten Abenteuer der Lingenbande" liegt. Vier Menschen, die zwar keine eigenständig gelebte Kindheit hatten, deren Kraft aber ausreichte, den Sprung vom geistigen Wesen hin in die reale Welt zu schaffen.

Hinter dem Text steckt natürlich eine gewaltige Menge an Fragen und Gedanken. Die dürften dann aber eher die Eltern und Erzieher der Kinder im Herzen bewegen, deren Nachwuchs dieses Buch des beliebten irischen Autors liest. Für Jugendliche, die nie den Kontakt zum Lesen verloren haben, für die die Gestalten ihrer Bücher Freunde sind, die auch ein bisschen zwischen den Welten wandeln, ist das Buch auf vielerlei Weise ein Abenteuer. Zum einen erzählt es sehr viel über das Leben in diesem Jahr 1934, über die Anfänge der Infiltration, über die Vorgehensweise der neuen Machthaber, über die Bücherverbrennungen, die Beschneidung persönlicher Freiheiten, Diskriminierung, Angst und Hass, zum anderen macht es deutlich, mit welchen Methoden der menschliche Geist in eine Richtung gezwungen werden kann, wenn man aufhört, mit feinen Antennen zu lesen. Darüber hinaus zeichnet es Lebensschicksale zweier Autoren nach, die sehr unterschiedlich sind, aber genau darin aufzeigen, wie Schöpfer von Figuren sein können in ihrer ganzen Bandbreite. Die Figuren, die aus reinen Phantasiegestalten ins Menschsein gelangen, symbolisieren quasi wie nebenher die stets unterschätzte Macht der Phantasie, der Worte, der Bilder, die in uns wirken, so stark lebendig werden können, dass der Schritt ins greifbare Leben nahezu gering erscheint.

Ein Buch, das fernab von reinen Fakten und der heute üblichen Geschichtsschreibung auf den Menschen eingeht, der in diesem System lebt oder eben – in das Leben kommt, trotz dieser Zeit und gerade deswegen. Inhaltlich und auch formal ein außergewöhnliches Buch, denn mit Hilfe der Schrift wird immer deutlich, auf welcher Erzählebene man sich gerade befindet. Dennoch – die Leser sollten nicht ganz unvorbereitet in dieses Abenteuer gehen, also im Alter eher 14 Jahre sein. Wenn Eltern und Kinder das Buch lesen, ergeben sich unzählige Ansatzpunkte für eine Grundsatz- und Wertediskussion. Es werden viele Fragen kommen – Zeit also, sich einen Standpunkt zu suchen und die Botschaft zu verstärken, dass Phantasie, Glaube an das Gute und Liebe zu den Menschen stärker sind als alle Ketten und Kerker dieser Welt.

csc
20.07.2002

 
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Das Buch:

Mark O'Sullivan: Engel ohne Flügel

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Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben 2002
175 S., € 14,50
ISBN: 3-7725-1934-2

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