Kinder- & Jugendbücher

Anspruchsvolles Bilderbuch – nicht (nur) für Kinder

Ein Mädchen liegt mit offenen Augen im Bett. «Man kann sich im dunklen Zimmer verlaufen, wie in einem Wald», denkt es noch, doch «gottlob ist der Wald von Bären bewohnt.» Zum Glück gibt es den weißen Bären, der ein wenig im Dunkeln schimmert, wenn er am Bett des Mädchens sitzt, der tanzt, wenn von nebenan Musik kommt, und der erzählt hat, dass die Puppen Angst haben, wenn sie die Augen schließen. Viel Platz bleibt dabei für das Mädchen nicht übrig. Doch eines Abends kommt der weiße Bär nicht wieder und es bleibt stockfinster neben dem Bett. Stattdessen sitzt dort ein schwarzer Bär, der nicht im Dunkeln schimmert und der nicht tanzt. Von ihm erfährt das Mädchen, dass sich in der Nacht nur die Räuber und Diebe fürchten. Aber wer oder was sind nun der weiße und der schwarze Bär und ist tatsächlich nur der weiße Bär erfunden?

Die Vermischung von Realität und Phantasie spiegelt sich auch in den surrealistisch wirkenden, in wenigen Farbtönen colorierten Zeichnungen Eva Muggenthalers wider. So wird deutlich, wie fließend die Grenzen zwischen diesen beiden Bereichen sind. Insgesamt wird durch die Zeichnungen eine eher bedrohlich wirkende Grundstimmung vermittelt. Die Darstellung der Gedankenwelt des Mädchens nimmt einen großen Raum ein, so wird beispielsweise das Zimmer zum Wald und aus der Lampe erstrahlt der weiße Bär. Auf den detailreichen Bildern gibt es zwar viel zu entdecken, das Textverständnis für Kinder wird durch die Illustrationen aber keineswegs erleichtert.

Vielschichtige Interpretationsmöglichkeiten

Nominiert wurde das Bilderbuch von Jürg Schubiger und Eva Muggenthaler für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2008. Aber handelt es sich wirklich um ein Buch, das Kindern im Kindergartenalter gefällt oder um ein Buch, das die Interpretationslust seiner erwachsenen (Vor-)leser befriedigt? Die Geschichte kommt mit wenigen realen Personen aus – einem Mädchen und seiner Mutter. Das Mädchen hat keinen Namen, was dem gesamten Text einen unpersönlichen, sachlichen Charakter verleiht, der sich auch in einer Sprache widerspiegelt, die mit wenigen Ausschmückungen operiert. Dieses Mädchen befindet sich in einer für Kinder oftmals alltäglichen Situation – es liegt im Bett, kann nicht sofort einschlafen, Gedanken kommen… dann schläft es doch noch ein. Der bis hierhin skizzierte Inhalt erscheint auch für Kinder real und nachvollziehbar, doch bereits auf der nächsten Seite wird deutlich, dass das Mädchen nicht zwischen Traum und Realität unterscheiden kann und auch für den erwachsenen Leser ist es schwer zu bestimmen, inwieweit das Mädchen auch von Tagträumen, den weißen Bären betreffend, heimgesucht wird, oder sich die Begegnungen mit dem weißen Bären nur in den nächtlichen Träumen abspielen. Insgesamt werden durch Text und Bild mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Sind es also Erwachsene, die die Bären als metaphorische Darstellung von Tag und Nacht bzw. von Gut und Böse deuten sollen – doch ist der weiße Bär automatisch der gute und der schwarze der böse, wie man auf den ersten Blick vermuten könnte? Jürg Schubiger hat jedoch mit den Eigenschaften der beiden Bären die allgemeine Farbsymbolik umgekehrt und somit wird auch eine klare Unterscheidung von Gut und Böse infrage gestellt bzw. indirekt auf die unzähligen Graustufen, die es zwischen weiß und schwarz gibt, hingewiesen.

Aufgrund der vielschichtigen Interpretationsmöglichkeiten sind als potentielle Zielgruppe des Bilderbuchs also eindeutig Erwachsene zu nennen – bei Kindern, die ohnehin Probleme mit dem Einschlafen haben, könnten bestehende Ängste eher verstärkt werden, da hier eine Unterscheidung zwischen Traum, Realität und Phantasie des Mädchens für Kinder nicht möglich ist und diese Aufhebung von Grenzen sehr verunsichernd wirken kann. Zudem bietet das Mädchen keinerlei Identifikationsmöglichkeit für Kinder, man erfährt sonst nichts direkt über das Mädchen – auch hier ist wieder das Interpretationstalent eines erwachsenen Lesers gefragt, der das Mädchen als phantasievoll und offen bewerten könnte. Gleiches gilt für die Mutter: Nur ein erwachsener Leser wird deren Reaktion auf die Erzählungen ihrer Tochter als verständnisvoll deuten können und das offene Verhältnis von Mutter und Tochter erkennen, das durch stille, kleine Gesten deutlich wird.

Jürg Schubiger wird im September 2008 mit dem «Hans Christian Andersen Preis» für sein kinderliterarisches Werk ausgezeichnet. Mit dem Buch «Der weiße und der schwarze Bär» hat er gemeinsam mit Eva Muggenthaler ein Bilderbuch geschaffen, das dem anspruchsvollen erwachsenen Leser entgegenkommt, das aber für Kinder im Vorlesealter aufgrund der distanzierten Darstellung der Thematik, der fehlenden Identifikationsmöglichkeiten, des verwirrenden Textes und der oftmals bedrohlich wirkenden Bilder nur schwer zugänglich ist. Dies ist kein Buch, das Kindern bei der Bewältigung ihrer Einschlafschwierigkeiten oder Ängste helfen kann, sondern ein Buch, in dem vor allem seine großen Leser in Text und Bild sehr viel entdecken können.

Claudia Birk-Gehrke
26.05.2008

 
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Das Buch:

Jürg Schubiger und Eva Muggenthaler: Der weiße und der schwarze Bär

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Wuppertal: Peter Hammer Verlag 2007
32 S., € 14,90
ISBN: 978-3-7795-0078-0

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