Gedichtbände

Pendelbewegung

"Haiku zur Selbstbesinnung", so hat Reinhard Gelbhaar sein Buch "Die verborgene Uhr" näher bestimmt. Die aus dem Japanischen übernommenen Haiku ("lustige Verse") sind traditionsgemäß Dreizeiler, und so hat sie Reinhard Gelbhaar auch geschrieben. Kurz und ohne Titel, dazu bestimmt, dem Leser so etwas wie einen Lotsendienst für die Suche im Leben anzubieten. Aber es sind keine belehrenden Ausrufezeichen, die der Autor dem Leser entgegenhält. Oft erscheinen einem die Haiku eher wie Pendelbewegungen, die zwischen dem Fragen und dem Sagen die Antwort suchen.

"Dein Lachen erklingt. Ich kann Glück sehen seitwärts, blicke ins Zentrum." Schon dieses Gedicht verrät, dass man in diesem Buch die etwas eigene Logik des Lebens enträtseln lernt, die mit den einfachen Regeln des Verstandes nicht ohne weiteres erschlossen werden kann. So setzt sich in vielen Haiku ein Denkimpuls in Gang, über das Gelesene hinaus, zwischen den Zeilen, hinter dem Gesagten, zwischen den Seiten. Das ist der Reiz der Wortkürze - dass sie eben Denkweite erzeugt. Es wäre eindeutig zu schade, das interessante Werk von Reinhard Gelbhaar nur zum Lesen zu nutzen. "Uhr dreht sich immer weiter. Atem in Papier." Welch eine Fülle an Einsichten sich da ausbreitet, in diesem knapp 54 Seiten zählenden Buch!

"Bin ich im Neben? Bin ich eine Bewegung? Ich bin nicht. Ich bin." Da wird die tickend mahnende Uhr fast hörbar. Und sie führt weiter, unaufhaltsam, und überrascht in jeder Zeile. "Mit dem Mikroskop", schreibt Gelbhaar, "sehe ich, dass die Dinge gar nicht so klein sind." Immer wieder erspürt der Leser die Tiefe des Buches. "Solang ein Rätsel bleiben die Seele und Geist, gibt es die Freiheit".

Eine deutlich sichtbare sprachliche Raffung zieht sich durch das ganze Buch. "Ich trinke Nähe", heißt es beispielsweise, was an die Genialität des Sprachgebrauchs von Rilke erinnert. Jedenfalls wird jeder, der Rilke liebt, an diesen Haiku seinen Gefallen finden. Wer hingegen vom Zeitungslesen her auf ökonomisches Tempo ausgelegt ist, wird abgebremst. Hier ergibt sich die Schlagzeile erst im eigenen Kopf. "Nur im Innen ist der Raum", formuliert Gelbhaar eine seiner treffendsten Zeilen.

Und wer glaubt, beim Lesen seinen Schritt gefunden zu haben, wird neu irritiert: "Das Schwarz braucht Farbe. Wahrheit ist asymmetrisch und unwillkürlich." War es nicht schon immer ein Privileg der Dichter, mehr zu sehen? "Die Augen schließen", empfiehlt Gelbhaar, "und dadurch besser sehen, sich still vereinen." Allerdings wird sich mancher Leser, wenn er ehrlich ist, auch in manchem Text verlieren, ohne an den Abschluss des Gedankens gekommen zu sein. "Lachen ist die Last, die mit Angst verknotet ist. Tiefstes Weihnachten." Warum Weihnachten?

So ganz ohne Wagnis vollzieht sich also das Lesen und Begreifen-Wollen nicht. Und dennoch: Man fühlt sich bald gut geborgen in diesem Buch, das so gut ohne lenkende Zwischentitel und überdeutliche Bilder auskommt. Das mag an der Lebenshaltung liegen, die man aus "Die verborgene Uhr" herausliest, an einem selten gewordenen Gefühl der Verbundenheit mit allem. Ist hier ein später Romantiker am Werk? Einer, der sich überall zuhause fühlt? "Frieden ist der Sieg", das ist fast so etwas wie eine sprachliche Legierung, in der alles aufzugehen scheint. "Ich bin nicht der Richtige für die Ausgrenzung", gesteht der Autor, dessen Empfindsamkeit an mancher Stelle deutlich wird, was gleichzeitig Rückzug und Besinnung verrät. Ein höchst anregendes Buch, das eigentlich voller Bücher steckt, vollgepackt, aber offen und frei zum ahnenden Bedenken.

Ronald Roggen
09.07.2012

 
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Das Buch:

Reinhard Gelbhaar: Die verborgene Uhr. Haiku zur Selbstbesinnung

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Frankfurt am Main: public book media Verlag 2011
54 S., € 10,80
ISBN: 978-3-86369-071-7

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