Erzählbände & Kurzprosa
Ein Jahrbuch der besonderen Art: Geordnetes Chaos in einem Notizbuch
"Leicht und lebhaft floß die Rede, man schritt von Gegenstand zu Gegenstand, das Thema wechselte beständig ohne markierten Übergang. Ein Gedanke drängte sich mir auf, der mir oft in einer großen Menschengesellschaft kommt: welch buntes Stück es doch werden würde, wenn der ganze Gesellschaftsklatsch sich zu einem sichtbaren Gewebe verknüpfte. Welche Abwechslung gäbe das." Mit diesem Zitat von Hans Christian Andersen eröffnet der Autor an Silvester 2012 seinen Reigen an ganz persönlichen Gedanken, Eindrücken, Gefühlen, Schilderungen für das neue Jahr.
In der Tat findet er für alle 365 Tage ein passendes Thema: Was am 1. Januar 2013 mit Inhalten aus einem Neujahrsbrief von Franz Kafka vor exakt 100 Jahren beginnt, setzt sich mit Äußerungen über weitere Personen, Staat, Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft fort. Als Quellen dienen Zeitungen, Bücher, Radio und Fernsehen. Die Anlässe dazu sind vielseitig: Bei historischen und literarischen Personen sind es Geburts- oder Todestage sowie Jahrestage von diversen Ereignissen in ihrem Leben. Die genannten geschichtlichen Begebenheiten aus aller Herren Länder haben ebenfalls entsprechende Bezüge. Zudem sind Worte und Begriffe, die gerade (wieder) in aller Munde sind, sowie die seltsamsten Tiere und Pflanzen zahlreicher Erwähnungen wert. Auch darf der Leser ein wenig am Leben des emeritierten Juraprofessors teilhaben und erfährt z. B., dass er Zeitungsartikel nach Stichworten sortiert, gerne mit dem Bleistift schreibt und sich zur Entschleunigung die Haare bei einem Friseur schneiden lässt, in dessen Laden man in die Welt der Sechzigerjahre eintaucht.
Wie ein roter Faden zieht sich der Rückblick auf die eigene Familie und Gesellschaft - Täter, Opfer und die angeblichen Unwissenden - während der Zeit zwischen 1933 und 1945. Zur sachlichen Aufarbeitung helfen besonders geschichtliche Dokumente und Bücher von Zeitzeugen. Auch die Stadt Frankfurt, in der der Autor lebt, und ihre Menschen, Tiere, Straßen, Gebäude und Denkmäler - natürlich nicht ohne Hintergrundgeschichte(n) -mit all ihren Veränderungen über zwölf Monate bekommen ihren gebührenden Platz in diesem äußerst reizvollen Buch ebenso wie die Orte, zu denen eine besondere Beziehung besteht. Nicht nur hier zeigen sich die scharfsinnige Beobachtungsgabe und das Gespür des Autors für kleine, aber feine Details.
Das Erfreuliche daran ist: Ohne jeglichen oberlehrerhaften und belehrenden Unterton fühlt sich der Leser nicht nur gut unterhalten und informiert, sondern staunt jedes Mal aufs Neue, wie gekonnt immer wieder frühere Fäden aufgenommen und miteinander versponnen werden. Nur ein Beispiel mag dieses Vorgehen verdeutlichen: Über Kafkas Dissertation kommt der Autor auf Goethe zu sprechen, dessen Doktorarbeit eigentlich abgelehnt wurde und der sich trotzdem Dr. Goethe nannte. Damit ist der Bogen gespannt zu den Politikern, denen vor Kurzem wegen Plagiatsvorwürfen der Doktortitel entzogen wurde.
Geschickt ausgewählte und klug eingesetzte Zitate oder kurze Zusammenfassungen zu einem Thema erlauben einen leichten Einstieg in neue Bereiche oder für den Leser bisher unbekannte Gebiete. Einige ironische Seitenhiebe und süffisante Kommentare, z. B. zur Diskussion um die sprachliche Überarbeitung von Kinderbüchern, die sprachliche Gleichstellung von Frau und Mann und den Pferdefleischskandal, sind genauso Bestandteil wie etwa kritische Auseinandersetzungen mit dem Rücktritt von Papst Benedikt XVI., dem Fall Natascha Kampusch oder der Gleichstellung zwischen heterosexuellen und homosexuellen Paaren. Das alles geschieht im Übrigen ohne jeden Ansatz, Andersdenkende lächerlich zu machen.
Das kulturelle Spektrum (Literatur, Musik, Film und Malerei) befasst sich aber auch mit so Trivialem wie Figuren von Walt Disney oder Fernsehserien wie Sturm der Liebe. Und genau diese Tatsache macht dieses vergnügliche und zugleich nachdenklich machende Buch so abwechslungsreich und kurzweilig. Damit passt es natürlich zu dem anfangs zitierten Ausspruch von Novalis: "… das Chaos muss … durch den regelmäßigen Flor der Ordnung schimmern."
Andreas Berger
12.01.2015