Erzählbände & Kurzprosa
Mehrfache Spiegelungen von Traum und Wirklichkeit
Das unter dem Titel "Das Lied der tiefen Stille" vorliegende Werk ist schwer in ein Genre einzuordnen. Formal verläuft der Text in zwei parallelen Abteilungen, wobei der Leser die Wahl hat, jeweils beide Texte seitenweise nacheinander oder zunächst durchgehend die linke und dann die rechte Sparte zu lesen. Eingefügt ist ein kurzes Drama im Stile des absurden Theaters; exkursartige Passagen schließen sich an. Das Ganze wird unterbrochen von lyrischen Einschüben und endet in sachlich-psychologischen Betrachtungen geometrischer Formen.
Der Erzähler, der sich als Nachfahre des karthagischen Hanno vorstellt, schildert sein Erleben im römisch besetzten Germanien zur Zeit der Varusschlacht, während der rechtsspartige Paralleltext einen Flug moderner Argonauten ins All und in entlegene Gebiete der Welt beschreibt. Es entwickelt sich ein Konglomerat von historischen und traumartigen Bildern. In groben Zügen lässt sich eine Einteilung in links Vergangenheit, rechts Zukunft und Phantasie vornehmen, wobei späterhin im rechten Text für den Leser überraschend ein reportageartiger Abschnitt auftaucht, der konkrete Kritik an sozialem Elend und Barbarei in der Dritten Welt und an moderner Technik zum Ausdruck bringt.
Hier präsentiert sich der Erzähler als investigativer Reporter. Reale Welt und Traum vermischen sich und erinnern an André Bretons Definition des Surrealismus, den scheinbaren Widerspruch zwischen Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Wirklichkeit: der Surrealität. Einzelne symbolische Motive tauchen immer wieder auf: die Farben Weiß und Rot, schwarzes Licht mit weißen Schatten und die Tamariske, Symbol von Ausdauer und Standhaftigkeit.
Dem literarisch versierten Leser werden Entlehnungen und Andeutungen ins Auge fallen wie etwa die Lemuren ("Faust II"); die Sternenfahrer "wie gift aus nebel und kiel herausgespuckt" (dies erinnert an eine Zeile in Dürrenmatts "Physikern": "dass wir Ganymed vollkotzten"); "Publikumsbeschimpfung", die "Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt" (Peter Handke); "Endspiel" (Samuel Beckett); dem Helden begegnen ein "Schimmelreiter" (Theodor Storm) und der "Kleine Prinz" (Antoine de Saint-Exupéry).
Neben der Einteilung des Hauptteils in zwei parallele Texte kann auch die durchgehende Kleinschreibung teils wiederholtes Lesen erfordern, da sie zu Verständnisschwierigkeiten führen kann. Die Sprache ist weitgehend fragmentarisch, in kurzen Einheiten, hin und wieder rhythmisch, alliteriert stellenweise oder reimt gelegentlich, durchweg bildhaft und farbig. So spannt Tony Vanhee einen überdimensionalen Bogen von der Unbill im germanischen Sumpf neben der Irrfahrt im All, vom unerklärten Verlust der Gefährten, von der Erinnerung der Liebe bis hin zum Psychogramm der Elefanten und der Psyche geometrischer Figuren als symbolistisches Abbild abstrakter Strukturen.
Die angefügten "deutungen" erhellen nicht unbedingt das Verständnis, da sie auf den ersten Blick keinen sinnfälligen Zusammenhang mit dem Vorhergehenden zu erkennen geben. Es bleibt dem Leser überlassen, die Texte in einer traumhaften Deutung der Welt für sich zu interpretieren oder sie aber als kryptisch anzunehmen oder abzulehnen.
Dr. Martina Flakowski-Jankovic
25.11.2013