Erzählbände & Kurzprosa

Von siebenhundert verschiedenen Arten des Verweilens

Den meisten wird Botho Strau? f?r seine oft grotesken und anarchistischen Theaterst?cke ein Begriff sein. Doch auch mit Prosawerken wie "Die Widmung" und "Paare, Passanten" hat der deutsche Kultautor mit der Tendenz zur gewollt sperrigen und unbequemen Schreibe f?r Furore gesorgt. Dennoch k?nnten beide Ver?ffentlichungen unterschiedlicher nicht sein. Bei ersterer handelt es sich um eine traditionell strukturierte Erz?hlung, bei letzterer um eine Sammlung von Momentaufnahmen, Denkbildern, kurzen Essaytexten bis hin zu pointierten Aphorismen. Und bereits nach wenigen Leseminuten wird deutlich, dass Strau? mit "Vom Aufenthalt" ein weiteres Buch im letztgenannten Stil vorgelegt hat.

Den geneigten Leser erwarten auf rund 300 Seiten nahezu 700 in sich abgeschlossene Prosafragmente voller schier ?berbordendem Einfallsreichtum, deren Umfang vom Einzeiler bis hin zum mehrseitigen Erz?hltext reicht. Die Mehrheit der Textsplitter findet auf einer ungef?hren Viertelseite Platz und dementsprechend hoch ist die inhaltliche Vielfalt, die sich dem Leser offenbart. So wechseln sich knappe essay?hnliche Abschnitte mit kurzen Erz?hlpassagen ab, in denen Strau? die unterschiedlichsten Schaupl?tze und Figuren erschafft, wobei sich gelegentlich auch mehrseitige Kurzgeschichten zu der schier ?berbordenden Vielfalt an Kurzprosa gesellen.

Jedoch ist es v?llig gleich, ob Strau? sinniert, was gesch?he, wenn es Zeitmolek?le g?be, die Anh?nger des Zeitgeists als wenig zeitgem?? blo?stellt, oder von einem eigenartigen Erlass eines Dorff?rsten berichtet, der die Verbannung aller Greise ins Gebirge vorsieht. Die Thematik des Aufenthalts zieht sich dennoch wie der ber?hmte rote Faden durch das gesamte Buch. Und auch Elemente sp?terer Prosawerke aus der Feder des mittlerweile 65-j?hrigen Autors finden sich in "Vom Aufenthalt" wieder. Denn Freunde surrealer Begebenheiten kommen absolut auf ihre Kosten. Und auch die Tatsache, dass einige der Kurzgeschichte waschechte Science Fiction-Szenarien heraufbeschw?ren, wird treuen Strau?-Fans vertraut vorkommen. Egal, ob es um die seltsamen Machenschaften des "Human Improvement Technology Research Centers" oder einen Angriff genetisch manipulierter Raupenw?rmer geht - Strau? Erfindungsreichtum ist auch hier schier unersch?pflich.

Und auch die essayistisch gepr?gten Passagen von "Vom Aufenthalt" kommen im typischen Stil des deutschen Autors daher. Strau? wortgewaltigen literarischen Abhandlungen lassen Lust aufkommen, sofort die n?chste gut sortierte Bibliothek aufzusuchen, und machen auch seinem Ruf als ber?chtigter Zeitgeistkritiker erneut alle Ehre. Dennoch ist "Vom Aufenthalt" alles andere als ein blo?er Aufguss der vorangegangener Prosasammlungen des Kultautors. Zum einen wirkt der Spott, den er f?r den Schlag des Zeitgeistfanatikers bereith?lt, spitzb?bischer und oft leicht scharfkantiger als in vielen seiner vorangegangenen Werke. Und auch die Priorit?ten seiner Erz?hlprosa scheinen nun anders gewichtet. Statt auf die Suche nach dem Absurden im Allt?glichen scheint sich Strau? nun bevorzugt mit einem ordentlichen Schuss Absurdit?t bewaffnet direkt in die Welt des Fantastischen zu begeben. Und die schier unersch?pfliche Kreativit?t, die er hierbei an den Tag legt, erstaunt immer wieder, so dass Langeweile schlicht nicht aufkommen kann.

"Vom Aufenthalt" ist zugestandenerma?en alles anderes als ein einfaches Buch. Viele der Passagen m?gen auf den ersten Blick kryptisch anmuten. Und auch die in jeder Hinsicht beeindruckende Belesenheit des Autors, die sich auf jeder einzelnen Seite des Werks offenbart, werden Strau?-Neulinge eventuell eingangs als einsch?chternd empfinden. Dennoch sorgt der Ausnahmeautor durch seine bestechende Schreibkunst und seinen schier grenzenlosen Ideenreichtum daf?r, dass keinesfalls ein Germanistikstudium vorausgesetzt wird, um mit "Vom Aufenthalt" kurzweilige Lesestunden zu verbringen. Ein beeindruckendes, buchgewordenes Kaleidoskop ?ber das Verweilen, das anspruchsvolle Leser lange zu selbigen einladen wird.

Johannes Schaack
12.11.2012

 
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Das Buch:

Botho Strauß: Vom Aufenthalt

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München: dtv 2012
294 S., € 9,90
ISBN: 978-3-423-14133-8

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