Erzählbände & Kurzprosa

Sehen wir die Gegenwart richtig?

Professor Manfred Stöhr war Direktor der Neurologischen Klinik am Zentralklinikum Augsburg. Nun legt er Essays vor, die von ganz anderer Warte aus die Dinge beschreiben. "Zeitgemäßes" umfasst "Essays zur Gegenwart" und verfolgt das Ziel, die Gesamtschau zu erleichtern. Stöhr geht im Vorwort von der komplexer werdenden Welt aus, zu der uns die Medien laufend neue Meldungen liefern. Nun sollen seine Essays einen Blick hinter die Kulissen erlauben und die wichtigsten Themen unserer Zeit analysieren helfen. Erfreulicherweise gestattet der Autor den Widerspruch des Lesers, ja, er fordert ihn dazu heraus. Eine gute Haltung für ein Buch dieser Art.

Insgesamt sind es 81 Texte zu ausgewählten Themen, die in sieben Gruppen gebündelt vor uns liegen. "Brauchen wir eine Intimsphäre?" So lautet eine der vielen Fragen, die Stöhr dem Leser entgegenhält. Und man vernimmt einiges über Schutz und über den Wunsch nach Geborgenheit. Ein "diffiziler Balanceakt zwischen Distanz und Nähe" - wer hätte diese Erfahrung nicht schon selber gemacht, aber wer hätte über diese Spannung auch Gedanken verloren?

Es liegt auf der Hand, dass ein zentrales Thema wie Freiheit nicht fehlen darf, wenn es um Ansätze zur Gesamtschau geht. Ob man Stöhrs Medienschelte folgen will und wie paradox der Autor es findet, wenn "die Freiheit der Medien vielfach missbraucht wird, um den Erwerb von geistiger Freiheit bei den Konsumenten zu verhindern" - das darf nach der Lektüre jeder selber entscheiden.

Aber es finden sich auch eigenwillige Fragestellungen im Buch - etwa jene zur Originalität selber. Ist Originalität wichtig?, fragt der Autor und blendet damit in vergangene Jahrhunderte zurück, in denen Originalität alles andere als löblich und gefragt war. Stöhr führt dann in die neuere Zeit, wo originelle Konzepte unerhört viel Schwung in unser Wissen und Können gebracht haben, etwa in den Bereichen Psychoanalyse, Physik, IT und anderen mehr. Bei den "neueren Entwicklungen in Kunst, Philosophie und Ethik" gestattet sich der Autor gewisse Zweifel.

Ungewohnt mögen auch Fragen nach dem Jüngsten Gericht und dem Paradies erscheinen. Vielleicht verraten gerade hier die Essays am ehesten das natürliche Bedürfnis des Menschen, eine Traumvorstellung wenigstens auf der ewigen Zeitachse vor sich zu wissen.

Lesen sollte man nicht nur diese Passagen, sondern auch jene zur Geschichte: Sind die Großen der Geschichte wirklich groß? Stöhr sagt, dass diese Einschätzung unter anderem vom eigenen Standort abhängt, nämlich ob man zu den Siegern oder zu den Verlierern eines genialen Feldzuges gehörte oder nicht. Die wahrhaft Großen der Geschichte seien nicht Politiker und Heerführer, sondern Denker und Religionsstifter, Forscher, Künstler. Da kommt der abschließende Satz recht hübsch und fröhlich stimmend daher, wonach die menschliche Geschichte als "Prozess mit unverkennbarem Aufwärtstrend" angesehen werden dürfe. Ob ihm alle jüngeren Leser da ohne weiteres folgen werden? Manfred Stöhr sucht die Diskussion, spätestens mit diesem Satz hat er sie.

Das interessant angelegte Buch ist sehr dazu geeignet, den eigenen Sinn durch Auseinandersetzung zu schärfen. Der Wert der Essays liegt nicht in der Richtigkeit dieser oder jener Aussage, sondern im Impuls, das Erwägen und Denken darüber angeregt zu haben. Also doch ein neurologisch begründetes Buch? Wo anders als im zentralen Nervensystem wird überhaupt solches gedacht?

Das Buch dürfte für Eltern und Lehrer eine willkommene Hilfe sein, um Probleme aufzugreifen und sinnvoll einzukreisen. Die Anordnung entweicht dem Doktrinären, weil sich die thematischen Gruppen wie eine Menükarte anbieten, aus der man nach Lust und Laune wählen kann. Dazu passen die Leichtigkeit und die Verständlichkeit der Sprache, die wohl an keiner Stelle den Lesedrang abbremst, eher im Gegenteil.

Ronald Roggen
29.03.2010

 
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Das Buch:

Manfred Stöhr: Zeitgemäßes. Essays zur Gegenwart

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Frankfurt am Main: August von Goethe Literaturverlag 2009
288 S., € 18,80
ISBN: 978-3-8372-0566-4

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