Dramen

Bühnenstück für einen Gummiknüppel, ein Huhn, zwei Schauspieler und Schlagzeug

Beide Theaterstücke sind außerordentlich gegensätzlich. Es wird sich zeigen, daß sie nicht unvereinbar sind. Das eine haben sie gemeinsam: die ungewöhnliche Grundsituation. Eine völlig fremde Wirklichkeit, die von unserer Lebenswirklichkeit so weit entfernt ist, daß es uns leichter fällt, ihr zunächst nur zu folgen und uns auf sie einzulassen, um uns erst anschließend zu fragen: läßt es sich auf unsere Realität anwenden?

1. Der Staat - die Utopie - das Glück

Bühnenstück für einen Gummiknüppel, ein Huhn, zwei Schauspieler und Schlagzeug

Der Verfasser stellt ein Motto voran: Die größte Gefahr: der Staat. José Ortega y Gasset.

Die Welt ist eingeschränkt auf das, was die Bühne zeigt, mehr scheint es nicht zu geben. Die Menschheit besteht aus ihm und ihr, zwei jungen Leuten, Aleph und Alpha (Alpha mißßverstanden als weiblicher Vorname, der Autor weist selber darauf hin). Zu dieser Menschheit gehört ein Staat, der geheimnisvoll aus dem Hintergrund arbeitet, aber auch sichtbar tätig vorhanden ist, nämlich in Form eines Gummiknüppels, der von einer Aufhängung über die ganze Bühne schaukelt. Ab und zu läßt er ein Bulletin verlauten, einen Zettel mit einer Verkündigung, einem tiefgründigen Spruch; das liegt unter der Schwingbahn des Knüppels. Sie kriechen unter dem hängenden, schwingenden Staat bis an dieses Bulletin heran, nehmen es an sich und lesen es: Anweisungen und Hinweise zum vorgeordneten Leben im Staat und zur Summe alles menschlichen Glücks in diesem Staat, in diesem dürftigen Menschenleben - ein anderes gibt es nicht.

Achtung: Der Knüppel läßt sich losbinden; wer von beiden ihn greift und sich umschnallt, ist bevollmächtigt, jetzt selber Staat als Gewaltträger, und verfügt über alle Gewalt gegenüber der Partnerin/dem Partner.

Es gibt zudem eine Utopie, sichtbar, mit freiem Auslauf auf der Bühne, mit dem Recht zu gackern, ihren Kot zu hinterlegen oder - volkstümlicher - zu scheißen, wo sie geht und steht: eine Henne, ein Hühnchen, genannt Utopie, von der beide Menschen alles erwarten, ihren ganzen übergeordneten Lebenssinn. Die Henne überläßt mit ihrem Schweigen den beiden alle Freiheit, das Ideologische in ihrem Sinn zu deuten.

Das Glück wird miterlebbar im Umgang der beiden Personen miteinander: ihre Liebe erlebt sich in Haß- und Gewaltausbrüchen. Zu anderem werden sie bis zuletzt nicht fähig. Alle Verlautbarungen des Staats zu ihrem berwältigenden Glück (das er ihnen verheißt) vermögen kein Glück durchzusetzen. Und ihr laienhaftes, verstiegenes Philosophieren über Staatsrecht und die Staatsidee, den Staat an sich und den Staat mit seiner Glücksverheißung und seiner tätlichen Einwirkung auf die Menschheit bringt sie nicht einen Schritt näher an ein Menschenglück, an ihr Lebensglück heran. Die Utopie scheint nur dank der menschlichen Phantasie noch ihre volle Wirkung zu behaupten.

Ein Schlagzeuger mit großer Batterie, hauptsächlich auf feinere Töne abgestimmt (Tempelglöckchen u.ä.), geht mit der Bühnenhandlung mit und ersetzt gleichsam darin den griechischen Chor mit Deutung, Bestätigung und Widerspruch, berücksichtigt dabei aber die animalisch zarteren Nerven des Huhns und setzt sein Schmetterndes nur wohlkalkuliert ein.

Viel Handlung, viele Sadismen, viel sexuell ausgetobte Überfälle abwechselnd beider aufeinander - die Regie wird überlegen müssen, wieviel davon sie den Zuschauern zumuten will. Vielleicht ist einiges davon weitergehend als in Genets Zofen; andererseits wird klar, daß es nicht thematisch um sexuellen Sadismus als spezielle Deviation geht, sondern um Vergewaltigungen, die in Sadismen ausarten, weil ein gewalttätiger Staat nichts anderes im Menschen aufrichten kann als wiederum Gewalt und ihre Auswirkungen. Das Pervertierende geht demnach vom Staat aus. Hier ist der Verweis auf das Motto angebracht; und obwohl es im Stück nirgends Wort wird, ist es doch durch die gesamte Handlung hindurch präsent.

Komik bis zur Groteske ergibt sich in Diskussion und Handlung. Überdies darf das Huhn auf der Bühne eigenmächtig weitere Situationskomik schaffen; beide Darsteller müssen dessen Herr werden, mit Handlung aus dem Stegreif und improvisiertem Situationstext; und wenn die Utopie, ihr Hühnchen, über die Rampe ins Publikum flattert (wozu sie es geschickt unauffällig-auffällig getrieben haben), müssen sie es im Publikum - mit dessen Hilfe - einzufangen trachten. Abzweig und Nebensinn der Handlung, nicht Kern. Der ist ernst, wie sehr, zeigt sich am Schluß, als ihre größte Chance, zur Liebe zu finden, im letzten, größten Mißverständnis endet, in der Katastrophe, im Extrem: Aleph tötet seine Alpha.

Schon am Lesetext des Buchs ergibt es sich, nicht erst im Theaterraum, daß das Bewußtsein durch das vordergründig Groteske und Spektakuläre hindurch in Hintergründe unseres eigenen Menschlichen gelangt und die aufgestellten Fragen als dringend auch in der eigenen Lebenswirklichkeit erkennt. Da stellt sich heraus, daß die eigenen Wirklichkeitsräume denen der Bühne genauer entsprechen, als uns lieb sein kann - und diese Entdeckung läßt uns wach werden.

Die sprachliche und denkerische Brillanz des Textes verdichtet sich zu zahlreichen Höhepunkten, so wenn Aleph und Alpha sich begeistert suggerieren, das Huhn halte ihnen einen luziden Vortrag über die Utopie als geistigen Lebenssinn des Menschen und als seine eigentliche Glückserfüllung; sie feiern es fast ekstatisch als ihre Lebensbestätigung, als Glück.

Versteht sich die Regie auf den philosophischen Gehalt und das Menschliche der Handlung, dann kann aller Klamauk des Stücks, alle Dramatik und Tragik sich auszahlen als nachhaltig kathartische Wirkung. Das kleine Ensemble aus zwei eigenartigen Bühnenhominiden, einem Huhn und einem Gummiknüppel kann uns nachbarlich werden und das eng bemessene Stück mit seinem Eigensinn und Hintersinn verwandeln in eine lang nachwirkende Parabel, deren Größe sich erst künftig in längerer Theaterpraxis erweisen wird.

In dieses Theaterstück sind zwei ZWISCHENSZENEN eingelegt mit einem völlig selbständigen Thema und einer sehr eigenen, verschlüsselten Welt: Schattenspiele für 2 Figuren, der Text von 2 unsichtbaren Schauspielern vorgetragen, die spärliche Handlung hinter einer Sicht-wand schattenwerfend von 2 Tänzern oder mittels Puppen umgesetzt. Der Gegensatz beider Stücke könnte nicht größer sein. Im Sinn einer asiatisch rätselhaften Philosophie wird Wanderung durch Welt und Ich beschrieben. Eins durchdringt das andere, und das Wandern durch den Menschen selbst ist doch ein Wandern durch die Welt. Ebenso ist alles Wandern außerhalb doch ein ständiges Heimkehren in sich selbst und letztlich Verbleiben im Eigenen.

Das berührt uns fremd, kann aber mit seiner zarten Behutsamkeit den Europäer sehr fein erreichen. Und weil diese beiden Szenen zwischen die drei Handlungsabläufe des geschilderten Theaterstücks gelegt sind, kann sich eine Zwischenwelt ergeben, die je nach Inszenierung von befremdlich bis verzaubernd reicht, mit gegenseitigen Einflüssen in beiden Richtungen oder nur kraß gegeneinander gestellt, dann verfremdend, enigmatisch. Aber das Vermischen findet im Bewußtsein des Lesers/Zuschauers gleichwohl statt und läßt seine Beeinflussungen wohl erst im Unterbewußtsein sich voll ausprägen.

Die Komposition dieser beiden Extreme läßt einerseits die Absicht des Verfassers erkennen, dem Leser/Zuschauer für das Schwere, Böse, Tragische seiner Szenen fürsorglich einen Balsam an die Hand zu geben. Andererseits stellt er beide Theaterwirklichkeiten, die des Gewaltstücks Mensch contra Staat und die der versponnenen mystischen Philosophie, unserer eigenen konkreten Lebenswirklichkeit drastisch gegenüber, und wir stehen damit in einem mehrfachen Widerspruch von gegensätzlichen Wirklichkeiten, deren Wahrheitsansprüche wir an uns selber austragen müssen, im Theater und im Nacherlebnis - in den ungeklärten Dimensionen unseres Nachtbewußtseins mit seinem Dunkel.

2. Nichts Etwas Nichts. Ein Schaustück in 7 Teilen

Parabel von der Menschwerdung, einer verpaßten Menschwerdung. Ein erschütterndes, deprimierendes Stück - wäre da nicht der breite Mittelteil, Teil 4, mit seinem prallen Leben und seiner überbordenden Theaterhandlung. Leben? Es wird sich zeigen, daß es ein Scheinleben ist. Die menschliche Entwicklung hätte hier im Mittelstück die Gelegenheit zum Positiven nutzen sollen. Aber der Mensch wird nicht zu sich finden, denn er hat kein Ich, findet deshalb auch nicht zum Du, zum Wir. Alles an Gespräch und Gemeinsamkeit ist scheinbar, bleibt leere Gestik, geht am andern vorbei; der wäre auch gar nicht bereit, darauf einzugehen, ist ebenso ganz auf Eigenbestätigung beschränkt, die auch wieder nur ins Leere läuft, weil sie aus dem Leeren kommt; denn da ist keine Persönlichkeit ist, keine Individualität, kein Ich: der scheinbare Mensch kann in diesem Stadium nicht Mensch werden, nicht seine Identität erlangen. Er wird sich verfehlen. Die Hauptaussage dieses Schaustücks.

Die drei Teile davor führen aus dem NICHTS über Zwischenstadien bis in dieses scheiternde ETWAS hinein. Dunkelheit auf der Bühne. Wenn es ein absolutes Dunkel gäbe, dann würde es hier wahr. Wieweit die Technik dieses Schwarz auf der Bühne ermöglicht, wird erprobt werden müssen; denn die Sicherheitsbeleuchtung des Theaterraums ist nicht abschaltbar. Die zahllosen Zwischenstufungen von Schwarz über erstes Aufgrauen und vorsichtigste erste Wahrnehmbarkeit von Sichtbarem auf der Bühne bis hin zu dem Grau, aus dem die Menge der Spieler allmählich auftaucht, brauchen viel Zeit, noch mehr Geduld auf allen Seiten, der Zuschauer wie der Spieler.

Einzelne Bewegungen in der Körperhaltung, zufällig, unfreiwillig, unkoordiniert ... langer Weg bis hin zu Gruppenbildung, schließlich Paaren und beherrschter Bewegung als Gebärde und Gestikulation, so daß Signal und fast schon Austausch von Mitteilbarem möglich wird.

Aber es gibt nichts mitzuteilen, es gibt nur die Unfähigkeit, sich zu verstehen, sich zu sagen und gar dieses Unsagbare auf einen andern zu übertragen, der ebenso im Unsagbaren steckenbleibt.

Zum Mittelteil hin entwickelt sich mit dem Licht auf der Bühne und der freieren Bewegung auch etwas Fast-Menschliches. Viele komische theatralische Einfälle machen das Scheitern um so enttäuschender erlebbar. Der Mensch verpaßt seine Möglichkeit, zu sich zu kommen, sich als Mensch zu vervollständigen, bleibt in den unentwickelten Vorstufen stecken. Die Chance ist unwiderruflich vertan.

Die drei anschließenden TEILE 5 bis 7 führen genau den Weg wieder zurück, den wir als Herweg miterlebt haben: nun vom Grau ins Schwarz zurück, ins Unsichtbare, aus der Bewegung als Scheinfreiheit in das Starre, Bewegungsunfähige, aus dem Etwas zurück ins Hoffnungslose, ins NICHTS.

Dieses Stück verlangt von seinen Spielern Außerordentliches: der körperliche Einsatz ist hoch bis überanstrengend, und er kann - im Sinn des Stücks - überhaupt nur gelingen, wenn jeder Mitwirkende das Geschehen so selbständig mitträgt, als wäre er der Autor und darum sein bester Interpret - mit dieser unerhörten Selbständigkeit und Einfühlung, in Wahrheit einer Übernahme der gesamten Aufführung, die nicht in Teile zerfällt, sondern ein Ganzes ist. Und jeder einzelne Darsteller trägt dieses Ganze, jeder von ihnen ist es. Zu einer solchen ungewöhnlichen Bühnenleistung gehört eine ebenso ungew?önliche Vorarbeit Schauspieler-Regisseur, die alles und jeden erfaßt, bis in die Technik. Um so eindringlicher kann die Gesamtwirkung zum Erlebnis werden, zum Theaterereignis.

Beide Theaterstücke weisen ihren Autor als einen Meister der Parabel aus. Ionesco brachte seine Zeit in parabolischen Bildern auf die Bühne, Samuel Beckett übertrug seine Wirklichkeit in Endzeit-Parabeln; Jürgen Timm findet eigene Bilder und eine neue Theatersprache zu überzeugenden Parabeln. Das ist eine Entdeckung wert.

J. M. Grünheim
08.08.2004

 
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Das Buch:

Jürgen Timm: Der Staat ... Das Glück ... Die Utopie/ Nichts Etwas Nichts

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Frankfurt a. M.: Weimarer Schillerpresse 2004
110 S.
ISBN: 3-8267-5540-5

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