Dramen

Große Dichtung, auf andre Weise fortgesetzt

Goethes "Faust" ist die deutsche Dichtung par exellence, wobei man sich klar machen muss, das die Wenigsten den zweiten Teil der Dichtung überhaupt kennen. "Faust", das ist zunächst die Tragödie Gretchens und der Pakt des alternden Gelehrten Faust mit Mephistopheles. Die Kosmologie des zweiten Teils s schrieb der Dichter in gereiften Jahren und sie ist so voller Anspielungen auf die Mythologie, die Philosophie und Theosophie seiner Zeit sowie seiner eigenen Naturphilosophie, dass es unmöglich erscheint, dies alles als Leser zu erfassen oder als Regisseur auf die Bühne zu bringen. Allein die Phantasmagorie der "Klassischen Walpurgisnacht" findet ihresgleichen nicht in der Weltliteratur.

Goethe schreibt den ersten "Faust"-Teil ganz unter dem Eindruck der Liebe zu Lotte Buff und zu Lili Schönemann. Und so ist hier die Gretchen-Geschichte das Wichtigste. Der Dichter ist ein junger Mann und er schreibt ein Bekenntnis seiner eigenen Erfahrung. Der zweite Teil geht weit über das Eigene und das Menschliche hinaus, sein Thema ist die Schöpfung als Ganzes.

Unter dieser Voraussetzung ist es ein löbliches Unterfangen, wenn Reinhard Pantel versucht, eine Art Kammerspiel zu gestalten, in dem der geniale Wurf eines Goethe in sozusagen "menschlichere" Dimensionen geholt wird.

Der Autor entwirft eine Geschichte, die eine Fortsetzung der Gretchen-Handlung gestaltet. Faust, im Rollstuhl und durch die Parzen, die Schiksalsgöttinnen, der Erinnerung beraubt, wird konfrontiert mit dem "Fall Gretel", die als Hexe und Kindsmörderin verurteilt werden soll. Um sein Gedächtnis wieder zu aktivieren, lässt er seinen Schüler Wagner nachsehen, an welchem Projekt er zuletzt gearbeitet hat. Es ist die Übersetzung des Vaterunsers und damit ein Pendant zu der Übersetzung des Johannes-Evangeliums, an der Goethe seinen Faust fast verzweifeln lässt. Hier wie da misstraut Faust der eingängigen, glatten Sprache und versucht sich an neuen ungewöhnlichen Formulierungen, die in diesem Falle die Menschen in seiner Nähe schockieren.

Doch Fausts Erinnerung kehrt nicht zurück. Gestalten aus dem ersten und zweiten Goetheschen "Faust" begleiten ihn: So ist die kupplerische Frau Marthe nun eine Nachbarin, die ihn an Gretel erinnern will, und die schöne Helena, mit der der Goethesche Faust das Wesen Euphorion zeugt, darf hier Fausts Rollstuhl schieben. Mephistopheles bietet sich an, bei der Wahl eines Verteidigers für Gretchen zu helfen, da er als Nichtbürger nicht wählbar ist. Er ist nicht der "Teufel", sondern das Wesen, das dem dynamischen Reifeprozess des Menschen nachhelfen soll. So gibt es auch bei Pantel einen Anklang an den "Prolog im Himmel". Der Autor erinnert mit Recht an eine Verwandtschaft dieser Szene mit dem Buch Hiob im Alten Testament. Keine Wette wird hier geschlossen, sondern "Hiobs (wie Fausts) Geschick ... seine Versuchungsanfälligkeit eben, wird lediglich Satans Beobachtung überlassen" (S.15).

Die Gesellschaft geht ins Gasthaus, wo eine übermütige Stimmung entsteht - Faust aber seinen eigenen Gedanken und Visionen nachhängt. Er sieht Gretchens Mutter als "Die Kupplerin", er sieht eine junge Mutter mit Kind, die für Gretchen selbst steht und er sinniert über das Urvertrauen zum Lebenszyklus des menschlichen Daseins.

Hier wie im Goetheschen Faust II stirbt er im Grunde an einer Illusion. Wir erinnern uns an die Wette des ersten Teils: "Werd ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! Du bist so schön! / Dann magst du mich in Fesseln schlagen, / Dann will ich gern zugrunde gehen! / Dann mag die Totenglocke schallen, / Dann du deines Dienstes frei, / Die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen, / Es sei die Zeit für mich vorbei!" (Faust I, Studierzimmer). Goethe lässt den halbblinden Faust den angeblich höchsten Augenblick erleben, als die Lemuren bereits sein eigenes Grab schaufeln. Pantel lässt ihn über eine bloße schöne Empfindung sagen: " Hier in diesem Augenblick des Wohlbehagens, die hehre Zuversicht, verlangend ruf ich an: Gedank´und Tat, ach, bleibet mir, verweilet mir im Leben: ach Leben, du bist zu schön, - du Liebe, bist Krönung menschlichen Geschlechts." (S.76) Auch hier modifiziert der Autor den Inhalt der Wette: Nicht der Augenblick soll verweilen, sondern "Gedank´und Tat". Diesem Faust wird darüber hinaus bewußt, dass die Liebe das Wichtigste im Leben ist.

Als sein Tod von Helena, der Kellnerin im Gasthaus, entdeckt wird, requiriert Mephistopheles - eingedenk der alten Wette - den Toten: "Dieser Tote, der ist mir versprochen, mir, dem Teil, der `stets das Gute schafft´! Nicht Gott bin ich, sein Artgenosse doch, dem Heucheln Lieblingsspeise!"

Die Bürger und Bürgerinnen wehren sich gegen ihn, die "Teufel" die Faust holen wollen, ziehen sich zu "Engeln" um und der Herr zeigt Mephistopheles, worum es die ganze Zeit ging: "Ich bin recht zufrieden mit dir: Nur ... ich, ich habe gesiegt, wie du gelernt, dass ich will, wie mein Geist und mein Gesetz es will, - und du, ... du selbst, du lässt mich das Wunder machen, das Wunder, das dem Leben eigen ist, und das der Tod mit dem Leben krönt."

Und wieder sehen wir - wie auch am Schluss von Goethes Faust II: "Das Ewigweibliche / zieht uns hinan." ( Ende Teil II). Dies wird verbunden mit dem Ende von Faust I, dem "Heinrich! Heinrich", das hier wie dort Gretchen spricht und eine Stimme der Liebe ist, einer Liebe, die Faust Lossprechung und Verzeihung gewährt.

Sicherlich kann man gegenüber einem solchen Versuch, eine große Dichtung auf andere Weise fortzusetzen, als es ein genialer Dichter tat, äußerst skeptisch sein. Doch der Autor ist nicht so vermessen, einen Versuch zu wagen, der zwangsläufig misslingen muss, indem er Sprache und Handlung imitiert. So lässt Pantel den Dichter im Vorspiel sagen: "Ihr wisst, Parallelen werden gern geschrieben, ein jeder schreibt nach seiner Art" (S. 19). Sein Anliegen ist es, ein Stück zu verfassen, eine Paralleldichtung zu Faust II anzubieten, die "bewußt sachlich gehalten" ist und als eigenständig und aktuell gelten kann.

Diese Dichtung wie auch der Anhang mit Kurzgeschichten haben den Anspruch, Denkanstösse zu geben über Leben und Sterben des Menschen, über Tod als Teil des Lebens und über die Liebe als wichtigste Macht, die der Schöpfung innewohnt. Dies, so meine ich, ist dem Autor mit seiner eigenständigen Interpretation gelungen.

bwe
05.11.2002

 
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Das Buch:

Reinhard Pantel: Faust IIa

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Frankfurt am Main: Fischer & Fischer 2002
192 S., € 13,90
ISBN: 978-3-935895-17-0

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