Dramen
Drei neue Theaterstücke von Rainald Goetz in einem Band
Wie auf Wikipedia zu Rainald Goetz nachzulesen ist:
Rainald Goetz begann seine Autorenkarriere 1976 als Rezensent für die "Süddeutsche Zeitung". Berühmt wurde er 1983 durch einen Auftritt beim Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt. Vor laufenden Fernsehkameras ritzte er sich während seiner Lesung die Stirn mit einer Rasierklinge auf, ließ das Blut über seine Hände und sein Manuskript laufen und beendete die Lesung blutüberströmt. Marcel Reich-Ranicki zeigte sich von der temperamentvollen, authentischen und individuellen Sprache begeistert und nannte den Text Subito eine "literarische Leistung".
Seitdem sind zahlreiche Bücher aus seiner Feder erschienen. Und eines davon, noch dazu eines der genialsten, ist "Lapidarium", ein Buch mit drei Theaterstücken, die sich der Dunkelmaterie im Mensch des frühen XXI. Jahrhunderts zuwenden: Folter, Terror, Suizid. Wie herausragend das Buch ist, zeigt sich darin, dass "Baracke" für den Mülheimer Dramatikpreis 2024 nominiert war. Zwar ging die Auszeichnung dann an Sivan Ben Yishai, aber das tut der Freude an der Lektüre keinen Abbruch. Eher im Gegenteil: Man liest jede Zeile mit größtmöglicher Begeisterung.
Drei neue Theaterstücke von Rainald Goetz in einem Band
Im Gesellschaftsstück "Reich des Todes" wird der politische Prozess gezeigt, der von 9/11, dem islamistischen Terroranschlag, zur systematischen Folter von Kriegsgefangenen in den US-amerikanischen Lagern von Guantánamo und Abu Ghraib geführt hat. Am Extremfall des Versagens demokratischer Herrschaft im führenden Staat der westlichen Welt, in den USA, zeigt sich beispielhaft POLITISCHE THEORIE.
Das Familienstück "Baracke" verfolgt den Lebenslauf der Liebe, der vom Verliebtsein zu einem Kind führt, das Vater und Mutter erschafft, die Enge der kleinen neobürgerlichen Kleinfamilie, den Stumpfsinn, Gewalt im Inneren, im Keller des Hauses, Gewalt als politisch deklarierte Tat, bis hin zu den Morden, die der NSU, auch in Bezug auf die Taten der RAF, begangen hat. Die Energien, hier in Deutschland, die das hervorbringen: DIE ELEMENTAREN STRUKTUREN DER VERWANDTSCHAFT.
Das Ichstück "Lapidarium": Selbstporträt, Tagebuch der letzten Tage, Alter, Freundschaft, Tod. Der Tod erscheint dem Ich, die Sterbenden, die Toten, und mit den gegenwärtigen die früheren Jahre, Bilanz, im bayrischen Süden, Mai und November 2023, für Franz Xaver Kroetz. Wie wollen wir sterben, wie leben? Entwurf einer ANTHROPOLOGIE IN PRAGMATISCHER ABSICHT.
Theater für Daheimgebliebene
Literatur, die kein Blatt vor dem Mund nimmt - Sozialkritik so verpackt wie bei Rainald Goetz, das hat Stil. Und das war auch mal dringendst nötig! Seine Neuerscheinung "Lapidarium", im Übrigen Band sechs des "Schlucht"-Mehrteilers, bringt einen zum Staunen, zum Begeistern und vor allem zum Lesen, bis man vor Erschöpfung kein Auge mehr offen halten kann. Man verliert sich mit allen Sinnen in die jeweiligen Handlungen von "Reich des Todes", "Baracke" und dem buchtitelgebenden Stück und kriegt über diese Lektüre die Welt um sich herum nicht mehr mit. Auch hat diese eine ähnlich berauschende Wirkung wie Drogen. Ähnliches gelingt nur wenigen Schriftstellern. Und noch weniger so locker-leicht wie Rainald Goetz, einem Meister seines Fachs sowie Unikum in der Literaturszene.
Wenn schon Drama, dann aber richtig; und zwar verfasst von Rainald Goetz. Seine Stücke bringen Theater-Feeling in die heimischen vier Wände. Und das ist ganz, ganz groß(artig)! "Lapidarium" lohnt zweifellos eine Entdeckung, außerdem eine wiederholte Lektüre. Auch und insbesondere, weil Goetz keinerlei Tabus zu kennen scheint. Und selbst wenn, mit diesen bricht. Und das ist ein Phänomen!
Susann Fleischer
01.07.2024