Briefliteratur & Tagebuch

"... ein ganzes Bild von Dir"

Zwei Frauen, so sollte man zunächst denken, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, lernen sich im Jahre 1921 im Hause Freuds persönlich kennen und schnell wertschätzen: die 60jährige Lou Andreas-Salomé (LAS), die mit ihrem intellektuellen Schneid und aufgeschlossenen Wesen erst Nietzsche für sich gewann, später eine intensive Liebesbeziehung mit Rilke einging und schließlich Freud für sich einnahm, und die 26jährige Anna Freud, eine ehrgeizige junge Frau, die zum Zeitpunkt des Kennenlernens noch ganz am Anfang ihrer wissenschaftlichen Karriere steht. Die Schwarz-Weiß-Fotografien auf dem Cover spiegeln die Verschiedenheit der Charaktere eindrücklich wider: Lou, auf dem Foto 36jährig, strahlt mit ihrem offenen Blick und dem nur angedeuteten Lächeln eine tiefe Gewissheit des eigenen Wesens aus, während Annas Blick von unten fast ein wenig schüchtern wirkt - ein ernstes, mädchenhaftes Gesicht mit einem Anflug von Verträumtheit.

Der vollständig herausgegebene Briefwechsel, der sich nach dem anregenden Beisammensein in Wien entspinnt und bis zum Tode der älteren Freundin andauert, dokumentiert einen sehr lebhaften, offenen, sorgenden, kurz: alle Facetten einer Freundschaft umgreifenden Austausch von Gedanken und Gefühlen, der von Anfang an auf das vertraute, die Generationen überspringende "Du" setzt. Gleich im ersten Brief Annas an Lou findet sich dieses ü?hrende Geständnis, derer viele weitere folgen sollen: "Ich weiß, du glaubst es ja nicht, aber ich habe mir bisher immer vorgestellt, daß das Auf-der-welt-sein eigentlich etwas feindliches ist und das Gute und Schöne daran nur die Menschen, die einen lieb haben."

Dreh- und Angelpunkt des schriftlichen Austauschs ist natürlich die Theorie und Praxis der Psychoanalyse, die für LAS, nachdem sie 1912 bei Freud studiert hatte, zum "Wendepunkt" ihres Lebens geworden war. Hier deuten sich die langen und intensiven Diskussionen an, die stattfanden, wenn sich die beiden Frauen in Wien, Berlin oder anderswo trafen. Manchmal lesen sich die Momentaufnahmen, die Einblicke in den psychoanalytischen Arbeitsalltag gewähren, sogar recht amüsant, etwa in der lapidaren Kurzvorstellung einer Patientin Annas: "Sie ist ein Mädchen von 21 Jahren, zum Unterschied von meiner kleinen 11Jährigen gar nicht hübsch, fein und symphatisch, aber dafür ebenso redselig wie die Kleine zurückhaltend ist."

LAS bestärkt Anna, die nie eine Familie gegründet hat, in ihrer Rolle als Stütze und geistige Erbin des alternden und schwer kranken Freuds. Als sie 1927 ihre erste große Veröffentlichung "Einführung in die Technik der Kinderanalyse" liest, weint sie "aus einem Glücksgefühl der Nähe zu Dir, denn das konnte ich im vornhinein nicht so gewiß wissen, daß mir jede Zeile, jedes Wort so aus dem Herzen gesprochen sein würde".

Neben den eingestreuten Fotos, die den Band wie eine kleine Galerie begleiten, den sorgfältig recherchierten Anmerkungen, einer Bibliographie, einer Lebenstafel, sowie einem die wichtigsten Aspekte des Briefwechsels zusammenfassenden Nachwort ist es vor allem dieser erfrischende und herzliche Ton, der den immerhin 900 Seiten starken Band zu einem nachhaltigen Lesevergnügen werden lässt. Die kurze Poetologie des Briefes schließlich, die Anna Freud ihrer Seelengefährtin am 10.10.1922 zukommen lässt: "Es ist so schön, wenn Du auch alles Kleine schreibst, dann setzt es sich zusammen und wird ein ganzes Bild von Dir", lässt ein wenig Wehmut aufkommen an jene Zeit, als das Öffnen des Briefkastens noch kleine Schätze zu heben bedeutete.

Nicole Stöcker
03.04.2005

 
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Das Buch:

Daria A. Rothe /Inge Weber (Hrsg.): "... als käm ich heim zu Vater und Schwester" Lou Andreas-Salomé / Anna Freud. Briefwechsel 1919-1937

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München: dtv 2004 906 S., € 24,50 ISBN: 3-4231-32876

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