Briefliteratur & Tagebuch

Mein liebster Herzensmann!

Deutschland, 1940-1945. Die Kriegsjahre sind geprägt von zunehmenden Problemen in allen Lebensbereichen, von Not, Kummer, Sorge, Verzicht. Für die Männer, die an den Fronten aufgerieben werden, bilden diese Jahre oftmals eine Kette grausamer Erfahrungen, Angst, Verletzungen, Verwundungen. Feldpostbriefe sind das einzige Lebenszeichen der Menschen untereinander - Wärme aus der Heimat, Hoffnungsspender, Trost und Hilfe. Wie wichtig sind solche Briefe für die Menschen, die sich gerade erst kennen gelernt haben und wissen, dass das, was zwischen ihnen ist, mehr werden wird als ein Flirt.

Hartmut und Mira sind junge Menschen, gerade frisch verliebt, als Hartmut an die Front muss. Mira arbeitet und beide schreiben sich, so oft es geht. Wo die Gespräche von Mensch zu Mensch fehlen, muss das Papier Vermittler sein und wie so oft am Anfang einer Beziehung entstehen Missverständnisse, müssen sich beide erst aufeinander einstellen, es lernen, sich zu öffnen, die Herzkammern zu besuchen und aufzuschließen für den anderen. Was schon unter normalen Umständen oft genug nicht funktioniert, ist unter Kriegsbedingungen nahezu unmöglich. Da wissen zwei Menschen, dass sie ein gemeinsames Schicksal haben, dass sie nicht zufällig zueinander gestoßen sind, und nun haben sie wenig Möglichkeiten zum Austausch.

Das sich langsam und zart, oft genug durch Missverständnisse gestörte, entwickelnde Pflänzchen Liebe bekommt noch eine andere Dimension an die Seite gestellt. Mira beschäftigt sich intensiv mit der Anthroposophie, in der sie eine geistige Heimat gefunden hat. Hartmut kennt sich damit überhaupt nicht aus und durch den Krieg ist es auch sehr schwierig, sich darüber auszutauschen oder gar Schriften zu versenden.

Anja Kern (hinter diesem Pseudonym verbirgt sich Erika Beltle) veröffentlicht in diesem Buch den Briefwechsel zwischen Mira und Hartmut aus den Jahren 1940 bis 1945 und es ist viel mehr als die sich entwickelnde Liebe zweier Menschen in Zeiten des Krieges. Es ist die Auseinandersetzung zweier um die Wahrheit ringender Persönlichkeiten um die Anschauung, die weiter trägt als bisherige Ansätze, um die Frage, welche Richtung das gemeinsame Leben bekommen soll, wohin das Schiff steuern wird. So ist das Buch nicht nur die Chronik einer Liebe, sondern auch die eines intensiven Ringens um die Grundfragen der Anthroposophie. Karma und Schicksal, Menschenbild, die Weite der Betrachtung, die angeführte Literatur - diese Themen ziehen sich durch den Briefwechsel.

Hartmut tut sich anfangs schwer mit diesen Gedanken, zu abwegig erscheint ihm manches, zu seltsam, unbegreiflich. Erschwerend kommt hinzu, dass er nicht die Möglichkeit hat, entsprechende Schriften zu lesen, er ist auf das Wenige angewiesen, das ihm zugeschmuggelt werden kann, auf Gespräche mit anderen Menschen, die ihm Wege und Richtung weisen, auch wenn sie ganz andere Aufgaben und Anschauungen haben und natürlich auf die Briefe seiner Mira.

Diese Briefe sind ein Zeugnis der wachsenden Liebe, des gemeinsamen Ringens um eine Ausgangsbasis, des festen Glaubens, dass man, wenn man schon zueinander geführt wird (es gibt keine Zufälle!), auch die auftretenden Probleme wird lösen können - im gegenseitigen Abschleifen, aber auch in der wachsenden Erkenntnis, die sich durch die Arbeit mit den Gedanken Steiners ergeben. Man stellt oft fest, dass die Auseinandersetzung mit der Anthroposophie nicht nur über die Werke Rudolf Steiners geht. Oft fühlt sich ein Mensch ganz intensiv von dem in der Heilkunde vermittelten Menschenbild angesprochen, ein anderer findet seine Hoffnungen, Wünsche und Sehnsüchte im Gedanken der Reinkarnation formuliert, Mira erfährt tiefe Beglückung durch die Lektüre von Gedichten.

Hartmut hat am Anfang der Beziehung noch ein anderes Menschenbild, doch er ist offen für Miras Gedanken, nicht zuletzt die Erfahrungen im Krieg zeigen ihm deutlich auf, dass Umdenken notwendig ist, ein anderer Ansatz in der Behandlung und Führung der Menschen dazu führen kann, dass man einander achtet und sich Raum zur Entwicklung lässt. So finden sich in vielen Briefen Auseinandersetzungen um wichtige Grundsatzfragen, der Leser nimmt teil an Hartmuts Zweifeln, erlebt Miras Antworten darauf, die uns auch heute Einsichten vermitteln, helfen, den eigenen Standpunkt zu überdenken.

Das junge Paar kann sich ganz selten in diesen schrecklichen Jahren persönlich sehen. Immer sind das Höhepunkte, in denen die Beziehung eine große Stärkung und Festigung erlebt und damit auch die Bereitschaft, sich gegenseitig auszutauschen und die Werte zu formulieren, die nach dem Krieg durch das weitere gemeinsame Leben tragen sollen. Wir Leser zittern nicht nur im Keller mit, hören die Scheiben klirren, frieren in den stundenlangen Wartezeiten auf Bahnen, wir nehmen in diesem Briefwechsel, dem Zeugnis einer großen Liebe durch alle Zeiten von Angst und Terror hindurch, auch teil am Ringen um eine gemeinsame Weltanschauung. Dieser Frage sollte sich jeder Mensch in seinem Leben stellen: Wie greife ich die Welt auf? Gestalte ich sie mit oder lasse ich mich in den Sog der Menge ziehen? Erkenne ich meine Aufgaben und besitze ich auch die Kraft, sie anzugehen? Kann ich mir theoretisch etwas vorstellen, schaffe es dann aber auch, diese Gedanken vom Kopf auf die Füße zu bringen, in die Hände hinein, in das Tun zu kommen?

Mit der Entwicklung der Beziehung formen sich aus Gedankenbildern und Vorstellungen konkretere Einsichten in das Wesen des Menschen und in die großen Seinsfragen, werden Menschheitsrätsel angesprochen und der Versuch unternommen, sich der Lösung anzunähern.

In dem Maße, in dem Mira und Hartmut in ihrer Liebe zusammenwachsen und reifen, entwickeln sie auch ihre eigene innere Haltung, die ihnen hilft, die Jahre des Krieges an der Seele unbeschadet zu überstehen, wenngleich außen herum alles in Leid, Schmerz und Chaos versinkt. Mit ihren Briefe verschicken sie nicht nur Mut und Zuversicht, sondern auch eine unglaubliche Weite der Gedanken, die den anderen in seinem Tempo reifen und folgen lässt. Beide erweisen sich als wunderbare Briefschreiber, die es schaffen, die Gedanken, Fragen, Zweifel auch zu formulieren und darüber zu schreiben. Mira sendet Hartmut nicht nur seine geliebten, kleinen Süßigkeiten und in Gedanken immer ein paar Schutzringe für seinen unsichtbaren Panzer, sondern immer auch Denkanstöße, die ihn weiterschreiten lassen auf seinem Weg. Hartmuts Fragen, seine Zweifel sind wiederum für Mira Anhaltspunkte, ihre eigene Meinung zu hinterfragen und so auch tief darüber nachzudenken.

Anja Kerns Buch ist sehr berührend. Mit welcher Macht sich hier Gedanken zu Fragen, zu Zweifeln und letztendlich dann zu Überzeugungen formen, die das Leben bestimmen, ist eine Hilfe für die eigenen Fragen. Die Briefe, aus denen die jeweilige Stimmung ebenso herauszuspüren ist wie die große, wachsende Liebe, sind Zeugnisse des wunderbarsten Geschenks, das zwischen zwei Menschen möglich ist. Bis aus "Liebe Mira" ein ganz zärtliches "Du mein liebes Fraule!" wird, vergeht viel Zeit.

Dem Leser wird bei der Lektüre auch bewusst, wie intensiv sich das Paar mit allen Fragen der Zeit, der persönlichen Auffassung, der Gedanken, Ziele und Pl?ne auseinandersetzt. Im Vergleich zu der Flüchtigkeit, mit der heute Beziehungen eingegangen und wieder aufgelöst werden, wenn sich nicht binnen kurzer Zeit Gemeinsamkeiten (= du bist meiner Meinung, oder?) ergeben, wird klar: Es täte uns Menschen heute sehr gut, wir w?üden uns auch so intensiv um unsere Beziehungen kümmern, so viele Fragen stellen, Zweifel ansprechen, Irrtümer klären und vor allem unser Leben auf eine Basis stellen, von der aus wir sowohl in der Arbeit als auch im Beziehungs- und Familienleben, im sozialen, wirtschaftlichen und sogar gesamtgesellschaftlichen Miteinander das Leben gestalten können. Nicht nur zum eigenen Nutzen, sondern gemeinsam mit allen anderen.

Anja Kerns Buch ist ein Werk, das man nicht einfach herunterliest. Es enthült viele Samen, die erst nach und nach aufgehen. So, wie Mira ihrem Hartmut kleine Gedankenkeime schickte, die in seinem Leben aufgingen und Frucht trugen, so vermitteln sich uns heutigen Lesern auch die tiefen Gedanken, das Ringen um die Lebenseinstellung, die Basis. Vor der Folie der schrecklichen Erlebnisse im Krieg an der Front als auch in der Heimat entwickelt sich hier etwas zwischen zwei Menschen: Liebe. Und dass das nicht einfach nur ein Gefühl ist, sondern richtig Arbeit bedeutet, soll es auch ein Leben lang tragen, erfährt man hier besonders schön. Und so kann man an das Ende sehr gut ein paar Zeilen Goethes stellen, die Mira mitten im Krieg an Hartmut schickt: "Über allen anderen Tugenden steht eines: das beständige Streben nach oben, das Ringen mit sich selbst, das unersättliche Verlangen nach größerer Reinheit, Weisheit, Güte und Liebe." 

csc 
03.08.2002

 
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Das Buch:

Anja Kern: Weil ich Dich liebe. Briefroman einer Entwicklung 1940-1945

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Frankfurt am Main: Fouqué Literaturverlag 2001 472 S. ISBN: 3-8267-4160-9

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