Briefliteratur & Tagebuch
Briefliteratur, von der einem regelrecht schwindelig wird
Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" gilt als Meilenstein der französischen Literatur. Diesen kann man als Pendant des großen amerikanischen Romans bezeichnen. Doch auch die Briefe des Schriftstellers und Sozialkritikers lohnen unbedingt einer Entdeckung; insbesondere wenn eine Auswahl dieser in der Insel-Bücherei erschienen ist. So bekommt der Text von Proust auch die visuelle Schönheit und Eleganz, die ihm zusteht. "Briefe an seine Nachbarin" versammelt die erhaltenen, bisher unveröffentlichten Briefe an Mme Williams, aufschlussreich erläutert und kommentiert vom Proust-Biographen Jean-Yves Tadié, sowie einen Essay von Andreas Maier über unser Verhältnis zu Umweltgeräuschen, vor allem denen menschlich-zivilisatorischen Ursprungs.
Marcel Prousts Lärmphobie ist so legendär wie das mit rohen Korkplatten zur Geräuschdämpfung ausgekleidete Zimmer seiner Wohnung. Im Boulevard Haussmann 102 in Paris, wo Proust von 1906-1919 wohnte und sein Jahrhundertwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit schuf, macht ihm unter anderem der Baulärm in der Wohnung des Zahnarztes im Stockwerk über ihm zu schaffen. Proust freundet sich (brieflich) mit dessen Ehefrau an, Marie Williams. Er bittet, er schmeichelt, er scherzt, er zieht alle Register, um sich zumindest für einige Stunden die für seine Arbeit und die wenigen Stunden Schlaf nötige Ruhe zu verschaffen.
Unterhaltung, die alle Sinne betört und mit zum Schönsten im Bücherregal gehört - Band 1500 der Insel-Bücherei ist DAS Highlight für Proust-Interessierte, und auch für alle anderen. Es gibt keinen besseren Grund als "Briefe an seine Nachbarin", um die Welt um sich herum vollkommen zu vergessen. Hier findet man zwischen zwei Buchdeckeln Kunst in ihrer überwältigendsten Form. Der herausgebende Verlag macht dem Leser ein Geschenk, das dieser hütet wie den wertvollsten (Lektüre-)Schatz in seinem Leben. Ohne jeden Zweifel ein Juwel, das alles andere zu überstrahlen vermag. Ähnliches kann man nur von den wenigsten Büchern behaupten.
Susann Fleischer
22.05.2023