Briefliteratur & Tagebuch

Eine beeindruckende literarische Wiederentdeckung von zeitgeschichtlichem Rang, darüber hinaus eine verlegerische Großtat

Der Zweite Weltkrieg hinterlässt auch mehr als 75 Jahre nach seinem Ende Spuren in unserer Gesellschaft. Was damals geschehen ist, darf niemals wieder geschehen. Als Mahnmal für den Frieden, als klares Bekenntnis gegen Krieg und Verbrechen sollte man Hermann Stresaus "Als lebe man nur unter Vorbehalt" lesen. Doch die Kriegstagebücher des deutschen Schriftstellers sind weitaus mehr als Zeitdokumente, Erinnerungen an eines der dunkelsten Kapitel unserer Geschichte. Sie sind eine spannende, fesselnde, einzigartig grandiose Lektüre, die zeigt, dass Literatur nicht nur Romane oder Gedichte ist. Tagebücher und Briefe können so packend sein wie der neueste Thriller eines Bestsellerautors. Das Besondere an diesem Genre aber: Es will nicht nur unterhalten, hat vielmehr einen echten Mehrwert fürs Leben.

Ab April 1933 schreibt Stresau mehr oder minder regelmäßig Tagebuch und lässt den Leser an seinen alltäglichen Sorgen, die das Leben in der inneren Emigration mitbringt, teilnehmen. Natürlich ist es ein subjektiver Blick, aber die Überlegungen Stresaus sind immer interessant, selbst wenn man seine politische Einstellung nicht teilen kann. Vom Alltag während des Krieges inmitten der Diktatur handelt der zweite Band von Hermann Stresaus Tagebuchaufzeichnungen "Von den Nazis trennt mich eine Welt", die 1939 mit dem Überfall auf Polen beginnen und im April 1945 mit dem Einmarsch der amerikanischen Truppen in Göttingen enden.

Mit Kriegsbeginn verlegt Stresau seinen Wohnort nach Göttingen. Dort versucht er, abgeschnitten von den Nachrichten der Welt, aus den anhaltenden Jubelmeldungen der Nazis zu extrahieren, wie es wirklich steht. Dass in der deutschen Bevölkerung mit der Niederlage in Stalingrad und der zunehmenden Bombardierung ihrer Großstädte die anfängliche Siegesgewissheit in Mutlosigkeit umschlägt, kann aber auch die Propaganda nicht verdecken. Die Deportation der Juden ist für Stresau früh Gewissheit und hinter vorgehaltener Hand werden unter Gleichgesinnten zudem andere Kriegsverbrechen kolportiert.

Es gibt Tage, an denen er gleichermaßen verzweifelt an deutscher Schuld und der Angst um das Leben der ihm nahestehenden Menschen. So verbindet sich der analytische Blick des Intellektuellen Stresau mit einer den Verhältnissen trotzenden, unerschütterlichen Menschlichkeit. Die tritt besonders zu Tage, als er verpflichtet wird, in einer Fabrik zu arbeiten, die auch Zwangsarbeiter aus Osteuropa und Frankreich beschäftigt.

Literatur, die nicht nur ganz atem-, sondern auch sprachlos macht, den Leser geradezu schockiert - von Hermann Stresaus Tagebüchern vor und nach dem Zweiten Weltkrieg bekommt man Gänsehaut am ganzen Körper. Diese schockieren einen nachhaltig, gehen weit über das hinaus, was man im Geschichtsunterricht erfahren kann, sind wie ein Blick durchs Schlüsselloch. Für jeden, der sich über das schwierige Leben im Hitlers Nazireich außerhalb der dicken theoretischen Schinken, seien sie historisch oder soziologisch, informieren möchte, dem sei "Als lebe man nur unter Vorbehalt" von ganzem Herzen empfohlen. Solch eine Lektüre ist von seltener Einzigartigkeit im Bücherregal. Hier wird Schrifttum auf ein neues Level gehoben, nämlich zu Kulturgut, das man hüten sollte wie einen Schatz. Was für ein Geniestreich!

Eine Lektüre mit Nachhall sind die Tagebücher von Hermann Stresau. Auch wenn "Als lebe man nur unter Vorbehalt" mit knapp 600 Buchseiten nicht gerade schlank daherkommt, hätte das vorliegende Werk ruhig noch viele, viele Einträge dicker sein dürfen. Für Stresaus (Kriegs-)Tagebücher macht man sogar gerne die Nächte durch. Einmal zu lesen begonnen, kann man nämlich nicht mehr aufhören. Da kann im Bücherregal nur äußerst weniges mithalten!

Susann Fleischer 
14.02.2022

 
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Das Buch:

Peter Graf, Ulrich Faure (Hg.): Hermann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt. Tagebücher aus den Kriegsjahren 1939-1945

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Stuttgart: Klett-Cotta Verlag 2021 592 S., € 28,00 ISBN: 978-3-608-98472-9

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