Ratgeber
Innenansichten eines Titanen
Am Samstag, den 17. Mai 2008 um 17:20 Uhr ist er abgetreten von der Fußballbühne: Oliver Kahn, der Titan, hat sein letztes Pflichtspiel bestritten und hinterlässt ein Vakuum, dessen Ausmaße der deutsche und bayerische Fußballfan wohl erst in einigen Monaten und Jahren voll und ganz begreifen wird. Hinterlassen hat er der Nachwelt auch ein sehr persönliches Buch mit dem Titel "Ich. Erfolg kommt von innen" und reiht sich damit ein in die Riege großer Fußballer und Verfasser von Büchern mit egozentrischen Titeln: "Einer wie ich" (1975) und "Ich – Wie es wirklich war" (1992) sind von keinem geringeren als Franz Beckenbauer einst auf den Markt geworfen worden.
Vor allem auf nationaler Ebene hält Oliver Kahn nahezu alle möglichen Rekorde: meiste Deutsche Meisterschaften (8), meiste DFB-Pokalsiege (6), meiste Bundesligaspiele eines Torhüters (557) und so weiter und so fort. Dies und der Anschein, dass Oliver Kahn stets durch seine mentale Fokussierung und schiere Willenskraft Erfolge gleichsam erzwingen konnte, liefern berechtigten Anlass für eine Veröffentlichung seiner Innenansichten vor einer breiten Öffentlichkeit.
Exzellente Vorbereitung
Oliver Kahn hat sich für sein Buch gewissenhaft vorbereitet, hat viel gelesen und sich viele Gedanken gemacht. Er zitiert etliche Philosophen, aus psychologischen Schriften und Wikipedia, das er offensichtlich von vorne bis hinten durchpflügt hat. Sein Werk hat er in zehn Kapitel, seine zehn Erfolgskomponenten, gegliedert. Diese werden von seinen Schilderungen zweier einschneidender Momente rund um die WM 2006 umrahmt: Klinsmanns Bekanntgabe der Entscheidung in der Torhüterfrage und die Handreichung vor dem Elfmeterschießen gegen Argentinien.
Innerhalb der einzelnen Kapitel schiebt Kahn immer wieder einen "Quick Check" als Zusammenfassung des bisher Gesagten ein. Dies hilft dem Leser beim Reflektieren und auch beim nachträglichen Orientieren und Zurückblättern im Buch. Kahn versucht einen Dialog mit dem Leser zu führen, was witzig beabsichtigt war, aber nicht durchgängig gelingt. Dieses Stilmittel des Dialogs nutzt Kahn allerdings geschickt aus, um potentielle Einwände vorab zu entkräften ("Wenn Sie...jetzt schon mit dem Kopf schütteln, dann bin ich gespannt, was erst passiert, wenn ich...").
Oliver Kahn liefert mit diesem Buch weder eine Biografie noch ein Sportbuch ab. Wer vor allem dies erwartet hat, wird sicherlich enttäuscht werden. Rar gesät sind Interna aus der Nationalmannschaft oder vom FC Bayern, abgesehen vielleicht von seinem etwas überraschenden und nachträglichen Ritterschlag Stefan Effenbergs für dessen überragende Körpersprache: "Und er motivierte seine Mannschaft mit seiner Körpersprache unbewusst dazu, an ihre Leistungsgrenzen zu gehen…ich bin überzeugt, dass der FC Bayern in seiner Zeit mit Effenberg Furcht einflößender war als je in einer anderen Zusammensetzung."
Glanzparaden und Torwartfehler
Das vorliegende Buch ist immer dann überragend, wenn Kahns Ausführungen mit konkreten und nachvollziehbaren Erlebnissen aus seiner Karriere verknüpft werden. Dies wirkt glaubhaft, und man beginnt zu verstehen, wie er es geschafft hat, seinen Kollegen mental voraus zu sein, was ihm letztendlich über viele Jahre ermöglicht hat, zumindest einen Tick besser zu sein als der ganze starke Rest der weltweiten Torhütergilde: dreimal Welttorhüter des Jahres, viermal Europas Torhüter des Jahres und zweimal Deutscher Fußballer des Jahres. Insbesondere in den Kapiteln zu Themen wie Motivation, Ziele setzen, positivem Denken, Körpersprache, Vorbereitung, Perfektion und Disziplin kann der Leser viel Hilfreiches, weil Glaubwürdiges, für sich mitnehmen. Hier hat das Buch seine Stärken, denn dies waren auch immer Kahns Stärken.
Kahn macht sehr gut deutlich, wie wenig sich Sportler/Fußballer mit extern, vor allem durch Medien herangetragenen Informationen ("ABC hat seit x Minuten kein Tor mehr getroffen", etc.) beschäftigen, denn belasten sollten. Die Konzentration hat stets auf das Hier und Jetzt ausgerichtet zu sein, nicht auf die nächste Woche, schon gar nicht auf die tunlichst auszublendende Vergangenheit. Kahn schildert verständlich, warum er auch in einem vermeintlich leichten Spiel, eventuell noch in der Woche vor einem äußerst wichtigen Spiel, Anspannung und Konzentration nicht runterfahren darf, da ihm ansonsten das Momentum und damit eventuell sogar das kommende "wichtigere" Spiel verloren gehen kann.
Dafür vergaloppiert sich Kahn an einigen anderen Stellen, wenn er theoretische Exkurse führt, verschiedene Theorien zu seinem eigenen Weltbild zusammenführt, so z.B. bei der Dreifaltigkeit des Ichs oder in seinem "Konzept vom Menschsein", das mit ziemlich leeren Worthülsen daherkommt: "Drittens: Mensch sein heißt wissen, wo die eigenen Grenzen liegen. Das erst macht unsere Leistungsfähigkeit aus."
"Aus dem Hintergrund müsste Cafu schießen...Isser aber nicht!"
Schwächen offenbart das Buch auf der fachlichen Ebene, hier haben sich Oliver Kahn und sein Team einige Patzer erlaubt: "Köpke löste Bodo Illgner ab und der wiederum Harald Schumacher." Das war zwar vor Kahns Zeit, aber zwischen Illgner und Schumacher stand noch Eike Immel zwei Jahre lang im Tor der deutschen Nationalmannschaft. Dann ordnet Kahn sein Modell "Weil er da ist" dem Erstbesteiger des Mount Everest, Sir Edmund Hillary, zu, was jedoch ein Zitat des englischen Everest-Pioniers George Mallory ist. Darüber mag man vielleicht noch hinwegsehen, doch was Kahn bei der Schilderung der entscheidenden Szene im wohl bedeutsamsten Spiel seiner gesamten Karriere, dem WM-Finale 2002, abliefert, lässt dem versierten Leser die Haare zu Berge stehen: "Durch meinen Fehler. Ich hatte einen Distanzschuss von Cafu nicht zu fassen bekommen, ich weiß nicht warum. Ronaldo brauchte nur noch abzustauben." Wie bitte? Cafu? Der hatte zwar erfolgreich die rechte Seite der Brasilianer beackert, aber niemals diesen Flatterball geschossen, der im Rückblick von Kahns Karriere immer sein großes Trauma darstellen wird: Der kam von Rivaldo!
Dafür liefert Kahn wiederum interessante Einsichten in seinen persönlichen Prozess des Scheiterns als Nummer Eins im Tor der deutschen Nationalmannschaft für die WM 2006. Überzeugend legt er dar, wie er mental verkrampft hat und ihm damit die Lockerheit zu Höchstleistungen abhanden gekommen ist: Der mentale Fokus auf Fehlerverhinderung hat bei ihm solche geradezu provoziert.
Offen bleibt die oft diskutierte Frage, ob sich Oliver Kahn denn zu wichtig nimmt. Im Buch wird zumindest deutlich, dass es ihm schwerfällt, sich zurückzunehmen oder über sich zu lachen. Wenn er Letzteres versucht, dann wirkt es meist gekünstelt. Alternativ hätte das Buch in Anlehnung an John Irving auch den Titel "Oli und wie er die Welt sah" tragen können, scheint er doch nachträglich sein kontroverses Tun und Treiben damit rechtfertigen zu wollen.
Für wen?
Ganz im Sinne einer breit anvisierten Käuferschaft holt Kahn in seinem Buch jeden ab, er verlangt keine Vorkenntnisse, sondern liefert immer Hintergrundinformationen, die beim Fußballfachmann unter Umständen ob der Häufigkeit Langeweile auftreten lassen. Die Qualität seiner Sprache pendelt von "sehr ansprechend" bis hin zu BILD-Zeitungs-Niveau mit kurzen Sätzen bzw. Sätzen, die gar keine sind.
Fazit: Dieses Buch ist lesenswert für jedermann. Man muss kein Kahn-Fan, auch kein FC Bayern-Fan sein, man braucht nicht einmal übermäßig sport- bzw. fußballinteressiert zu sein. Man muss lediglich bereit sein, sich selbst reflektieren und an sich arbeiten zu wollen. Dann findet man in diesem Buch definitiv Anregungen und kann persönlich "etwas" mitnehmen. Wer mehr wissen will, wer wissen will, wie man nicht nur sich selbst zu einem Gewinner macht, sondern auch andere oder ein Team, der ist mit dem ebenfalls kürzlich erschienenen "Führungsspiel" von "Klinsmanns Hockeytrainer" Bernhard Peters besser bedient.
Christoph Mahnel
02.06.2008