Autobiographie

"Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann ..."

"... ist dazu verdammt, sie zu wiederholen." Dieses Zitat von George Santayana ist bereits über 100 Jahre alt, und dennoch aktuell wie nie zuvor. Noch vor zehn, zwanzig Jahren war es für die Masse der Bevölkerung in Deutschland undenkbar, auf die Straße zu gehen um gegen eine religiöse Gruppe zu wettern, oder sich öffentlich zu Ressentiments gegenüber Minderheiten zu bekennen. Zu frisch war noch die Erinnerung an die Nazizeit und den Weltkrieg, die größte Katastrophe, die die Menschheit je gesehen hatte - und nie wieder wollte man es dazu kommen lassen...

Doch seitdem ist viel Zeit ins Land geflossen: Die Zahl derer, die den Terror der Nazis und des Krieges miterlebt haben, nimmt ständig ab, und wer zu der Zeit schon gelebt hat, war mittlerweile oft zu jung, um diese dunkle Epoche bewusst wahrgenommen zu haben, wie der Autor selbst auch. Wolfgang Fischer macht uns daher auch mit seinem Buch, das die Briefe und Aufzeichnungen von drei Generationen seiner Familie überspannt, eines schonungslos bewusst: Jetzt, da uns die Zeitzeugen ausgehen, die Opfer und die Täter gleichermaßen, kann man fast befürchten, dass uns das Vergessen langsam ereilt, vor dem immer gewarnt wurde. Wie sonst ist es zu erklären, dass Zehntausende Pegida unterstützen; dass Bücher, die bewusst pauschalisieren und bestimmte Bevölkerungsgruppen abwerten, in den Bestsellerlisten landen; dass "achtbare Bürger" ohne Scham und öffentlich sagen, "Flüchtlingsheime, ja gerne, aber muss das denn vor unserer Haustür sein ...?"

Vielleicht würde es diese Tendenzen nicht so ausgeprägt geben, wenn wir uns erinnerten, wie damals, in den 20er, 30er Jahren, der ganze Schrecken seinen Anfang genommen hat, und wie es sich nur wenig später angefühlt hat, die ganze Welt im Leid erstickt zu sehen ... Das schaffen keine nüchternen Analysen oder Berichte, das schaffen vielleicht nur Zeitzeugen. Und die lässt Fischer in seiner Spurensuche zahlreich und erfreulich objektiv zusammengestellt zu Wort kommen.  Seine Anmerkungen und Kommentare beschränken sich aufs Wesentliche und Nötigste, immer scharf analysiert und in den entsprechenden Kontext gesetzt, um so eine bloße Aneinanderreihung  von vornherein zu vermeiden. Dabei lässt er, ungeachtet des eigenen Familienhintergrundes, gleichermaßen jeden zu Wort kommen: Aus einem konservativen, gutbürgerlichen und sehr gebildeten Hause stammend, zeigt Fischer uns ein Bild einer Familie aus der Mitte der Gesellschaft. Deren Mitglieder decken vom Skeptiker über den Mitläufer bis zum willigen Vollstrecker ein Spektrum ab, was es sicher so nicht häufig gab - und gerade dadurch so fasziniert.

So ist das Buch nicht nur ein zu Herzen gehendes und fesselndes Zeugnis eines deutschen Familienschicksals zur schlimmsten aller Zeiten, sondern, wie Fischer selber anmerkt, auch "Lehre und Mahnung zur Wachsamkeit vor undemokratischen Tendenzen in unserer Gegenwart". Dem kann man eingedenk der jüngsten Nachrichten nur zustimmen - und allein deshalb ist dies Buch von eindringlicher Wichtigkeit. Oder wie es der Autor selbst formuliert: "Nachfolgende Generationen werden andere Aufgaben bewältigen müssen, ihre eigenen Erfahrungen machen und daraus ihr eigenes Weltbild formen. Meine Hoffnung ist, dass Ihnen dabei die Spuren, die einst ihre Vorfahren hinterlassen haben, bisweilen hilfreich sein werden."

Gerrit Koehler
06.07.2015

 
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Das Buch:

Dr. Wolfgang Fischer: Spurensuche. Geschichte und Geschichten meiner Familie in bewegten Zeiten

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Frankfurt am Main: August von Goethe Literaturverlag 2015 266 S., € 24,80 ISBN: 978-3-8372-1660-8

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