Autobiographie

Rückblende und Abschied

Das Buch unter dem Titel "Ein Leben", das Jutta Mühlbrod geschrieben hat, ist zwar als Autobiografie zu verstehen. Aber es weitet diesen Blickwinkel aus, obwohl man es diesen 63 Seiten kaum zumuten wird.

Vor dem Leser liegt zunächst ein Kapitel über die Jugend im alten Osten Deutschlands, unter den Lasten des Krieges, wie man anhand der erlebbaren Belege gut nachvollziehen kann. Man sieht die Menschen, die unter der Enge des Raumes und der Knappheit der Lebensmittel leiden, auf dem Acker nach verbliebenen Kartoffeln suchen. Die Leute "stoppeln Kartoffeln", schreibt die Autorin. Situieren kann man diesen Teil rund einhundert Kilometer südlich von Berlin. Der Vater geriet in amerikanische Gefangenschaft, einzige Vergnügen sind das Schlittschuhlaufen und Kleinigkeiten des Alltags. Dann das erlösende Lebenszeichen aus Amerika, der Vater kam zurück. Aber Freude herrschte nicht lange. Denn die sowjetischen Besatzer vermuteten im Heimkehrer einen US-Spion und verhafteten den Vater am Karfreitagmorgen um vier. In der Familie herrschte blankes Entsetzen. Wer die Geschichte nach rückwärts liest, zuckt darob die Schultern, denn der Inhaftierte konnte die Sowjets von seiner Unschuld überzeugen und kam nach einiger Zeit wieder frei. Aber wer damals in der Geschichte stand, litt unter schlimmsten Vermutungen, unter Unsicherheit und Angst.

Zweite Erlösung also. Es folgt die Flucht in den Westen, die glückt. Köln erscheint der Familie als Schlaraffenland, alles wird mit einfachen Strichen hingeschrieben, alles bleibt verständlich und einfach, obwohl das Leben damals alles andere war.

Erstaunlicherweise schließt sich das zweite Kapitel mit der "Mitte des Lebens" mit nur siebeneinhalb Zeilen an. Das lässt vermuten, dass die Eindrücke der Jugend und die Liebe im dritten Lebensabschnitt sehr prägend waren, jedenfalls so prägend, dass dieses dünne Kapitel nur gerade die beiden Ehen mit je einem Bundeswehroffizier - die erste scheiterte, die zweite verließ sie als Witwe - notdürftig andeuten konnte.

Dann aber eröffnet sich noch vor der Buchmitte das dritte Kapitel, das an Schwung gewinnt, temporeicher lesen lässt und Spannung verrät. Mit 61 Jahren suchte die Witwe per Inserat jemanden zum Verlieben - und fand ihn: Werner. Diesem Menschen, den sie als "tollen Mann" beschreibt, widmet sich die Autorin im vertraulichen Du. Es ist ein nachträglich herbeigewünschter Dialog, denn die Altersdemenz ihres neuen Lebenspartners und die Maßnahmen seiner Verwandten entziehen der Autorin diesen geliebten Menschen.

Damit gerät viel Dramaturgie in das Buch. Der Spannungsbogen lebt von der verzweifelten Suche und dem - wie Jutta Mühlbrod schreibt - "schönen Abschied" nach einem kurzen Spaziergang Hand in Hand. Also gerät auch das dritte Kapitel zu einer Überraschung, wie sie das Leben bereithält für Leute, die sich intensiv darin bewegen.

Den Wert schafft das Buch mit seiner psychischen Ehrlichkeit, aber auch mit den ungewohnten Wechseln von Lebensphase zu Lebensphase. Wo sind die Jahre dazwischen geblieben? Was bleibt nach dem Abschied an Hoffnung und Lebensfreude, um das Alter einigermaßen bewältigen zu können? Das Buch entlässt die Leserinnen und Leser mit einer Reihe offener Fragen. Das ist ohne Zweifel ein gutes Zeichen für stattgefundene Identifikation. So ganz unberührt wird das Buch "Ein Leben" niemanden lassen.

Ronald Roggen
10.04.2012

 
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Das Buch:

Jutta Mühlbrod: Ein Leben

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Rottenburg am Neckar: Mauer Verlag 2009
68 S., € 10,80
ISBN: 978-3-86812-161-2

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