Autobiographie

Von Machern und Betonköpfen - Über Steinkohle , Plattenbauten und das Ende der DDR

"Meine Wahrheit über die Deutsche Demokratische Republik" - mit dem zweiten Teil seines Lebensberichtes lässt Gunter Weidlich alias Günter Herold die Leser teilhaben an seinen Erlebnissen als Betriebsdirektor des Baubetriebes "Martin Hoop". Die gleichermaßen persönlichen wie zeittypischen Episoden spielen vor dem Hintergrund der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der DDR vom Jahre 1970 bis zur Mitte der "Wende" 1989, jenem Zeitpunkt, ab dem die Bestrebungen des "Neuen Forums" nach grundlegenden demokratischen und ökologischen Reformen den lauter werdenden Rufen nach D-Mark und Wiedervereinigung unterlagen und das Ende der DDR faktisch besiegelt war. 

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Die Steinkohlenvorräte im Zwickauer Revier gehen zu Ende. Dass der Tag kommen wird, an dem das Steinkohlenwerk "Martin Hoop" seine Arbeit einstellen muss, ist eine bittere, aber keineswegs neue Wahrheit. Vor Arbeitslosigkeit braucht in der DDR niemand Angst zu haben und doch ist die nun anstehende Umstrukturierung auch persönlich eine gewaltige Herausforderung für die Bergmänner und ihre Familien. Umzug in weit entfernte Braunkohlenreviere, der Wegfall von Einkommens-, Urlaubs- und Rentenvergünstigungen bei denen, die nicht im Bergbau weiterarbeiten können, Umqualifizierung in völlig fremde Berufe - eine solche Situation braucht Macher, Menschen, die Mut haben, voran zu gehen und neue Wege aufzuzeigen. Günter Herold IST solch ein Macher. 

Ein Teil der freiwerdenden Arbeitskräfte wechselt in den Braunkohlenbergbau und damit zusammenhängende Tätigkeiten. Um die Wartezeiten für den Trabant zu verkürzen, arbeiten fortan zahlreiche ehemalige Bergleute im VEB "Sachsenring" Zwickau. Die verbleibende Belegschaft beginnt damit, das Steinkohlenwerk in einen Baubetrieb umzuwandeln, der Plattenbauelemente für das ehrgeizige Wohnungsbauprogramm der DDR herstellt. 

In den 1980er Jahren verschärft sich die ökonomische Situation der DDR massiv. Die zentralistisch gesteuerten volkseigenen Betriebe und Kombinate sind zu unflexibel, um die Menschen in ausreichender Menge und Vielfalt mit Waren und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs zu versorgen. Dazu kommt die chronische Rohstoff- und Devisenknappheit der DDR. Immer deutlicher erkennt Günter Herold die ökonomischen Schwachstellen des Systems. 

Aus der Not geboren sieht sich der Plattenbaubetrieb plözlich als lokaler und regionaler Dienstleister. Da werden Kindergärten, Kinderkrippen, Theater und Poliklinik außerplanmäßig instand gesetzt. Mitunter bringt die Schieflage der DDR-Wirtschaft auch kuriose Entwicklungen mit sich: So fertigt der Baubetrieb neben Plattenbauelementen nun auch Holzspielzeug für Kinder und betreibt sogar eine eigene Apfelmosterei. 

Immer wieder blockieren die DDR-Oberen höchst innovative Ideen der Menschen an der Basis, die tagtäglich mit den Problemen konfrontiert werden und nach Lösungen suchen. Die Arbeiter haben erkannt, dass die DDR-Plattenbauten, die noch heute das Bild zahlreicher ostdeutscher Städte prägen, ein Massenprodukt sind, durchrationalisiert, standardisiert, aber ohne "Gesicht", wenig individuell. Die Idee jedoch, vorgefertigte Plattenbauelemente für ganz unterschiedlich gestaltbare Eigenheime oder die architektonisch anspruchsvolle Lückenbebauung in den verfallenden Innenstädten zu produzieren, scheitert am Starrsinn der greisen "Betonköpfe", die die DDR allmählich an den Rand des Abgrundes steuern. 

Und doch kommt das Ende der DDR auch für Günther Herold überraschend. Die demokratischen und ökologischen Reformbestrebungen des "Neuen Forums", dem Herold positiv gegenübersteht, werden von den wirtschaftlichen Entwicklungen und dem lauter werdenden Ruf nach der Wiedervereinigung regelrecht überrollt. Günter Herold ahnt die Gefahr für die wenig konkurrenzfäigen Volkseigenen Betriebe. Abwenden jedoch kann er sie nicht mehr. 

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Gunter Weidlich thematisiert die immer größer werdenden Widersprüche zwischen Anspruch und Wirklichkeit des "real existierenden Sozialismus" in der DDR. Auf der einen Seite die ehrgeizigen Pläne, Wirtschafts- und Sozialpolitik zu einem sich ergänzenden harmonischen Ganzen zu vereinigen, das dem Wohle der Menschen verpflichtet ist; auf der anderen Seite die immer prekärer werdende Versorgungslage. 

Gunter Weidlichs Lebensbericht ist ein authentisches Zeitzeugnis, das die Sicht eines staatlichen Leiters widerspiegelt und den "offiziellen" Sprachstil der damaligen Zeit noch einmal lebendig werden lässt. Jüngeren Lesern mag das fremd in den Ohren klingen; bei den älteren wird das Buch vermutlich ganz unterschiedliche Emotionen auslösen - Stolz auf das Erreichte, vielleicht ein wenig (N)Ostalgie, vielleicht aber auch bedrückende, beklemmende Gefühle. 

Mario Lichtenheldt 
12.09.2011

 
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Das Buch:

Gunter Weidlich: Meine Wahrheit über die Deutsche Demokratische Republik Teil II - Lebensbericht vom Ende des Steinkohlenbergbaus bis in die Mitte der "Wende"

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Frankfurt am Main: August von Goethe Literaturverlag 2011
114 S., € 12,80
ISBN: 978-3-8372-0949-5

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