Autobiographie

Endstation Italien

In Cavalese, einem Gebirgsstädtchen in den nördlichen Dolomiten, das im Februar 1998 durch den Zusammenstoß eines US-amerikanischen Kampfflugzeugs mit einer Seilbahn zu trauriger Berühmtheit gelangte, beginnen und enden die Kriegserinnerungen von Felix Rogge.

Mitte der Zwanziger geboren, gehört der Verfasser zu jenen verlorenen Generationen, denen nationalsozialistische Indoktrination, militärischer Drill, Kriegseinsatz und das traumatisierende Erlebnis des Zweiten Weltkriegs gut zwanzig Jahre ihres Lebens raubten. Als Schuljunge ist Rogge bereits mit nationalsozialistischer "Erziehung" konfrontiert: Nicht nur Jungvolk und Hitlerjugend, sondern alle nur erdenklichen Formen jugendlicher Freizeitbeschäftigung werden von den Nationalsozialisten organisiert, vom Bergwandern und Klettern über Lagerfeuerromantik bis hin zur Mitgliedschaft jeweils in der "Motor-, Marine- oder Flieger-HJ" (Hitlerjugend).

Eindrücklich erfährt der Leser in Rogges Erzählung, wie ganze Generationen von Jugendlichen - Jungen und Mädchen - ihren Familien und Freunden, überhaupt jeder nichtideologisch bestimmten, individuellen menschlichen Verbundenheit, systematisch entfremdet wurden, um in der Pseudo-Gemeinschaft des NS-Staates vorübergehend beheimatet, später aber umso ungenierter als Kanonenfutter missbraucht zu werden. Es wird an dieser Stelle besonders einsichtig, warum die Legende des Rattenfängers von Hameln so gerne für Hitler Verwendung findet.

Möglicherweise wird Rogge noch im Grundschulalter durch einen mehrjährigen Aufenhalt seiner Familie in Großbritannien gegen die nationalsozialistische Gesinnung im Unterschied zu seinen Altersgenossen immunisiert. Als die Familie 1934 ins "Deutsche Reich" zurückkehrt, ist Rogge der deutschen Sprache kaum mehr mächtig und zudem geprägt von einem kurzen, alltäglichen Ereignis, das sich ihm jedoch wie ein Menetekel in sein junges Gedächtnis einprägt. Als Knabe sieht er einen Zeitungsverkäufer im Januar 1933 in den Straßen Londons schreien: "Hitler Reichskanzler, that means war!" Auch die mahnende Stimme eines unerschrockenen Lateinlehrers, der den jungen Männern Sätze wie "Vae victis!" (Wehe den Besiegten!) einprägt, erweist sich als nur allzu prophetisch.

Nach Kriegsausbruch kommt der Autor als Artillerist zunächst an die Ost-, sp?äer an die Westfront, wo er wie viele junge Männer seines Jahrgangs den eigentlichen Sinn jugendlichen militärischen Drills bitter am eigenen Leibe erfahren muss. Obgleich die Invasion der heranrückenden Alliierten in Kürze bevorsteht, erlebt der Verfasser, selbst couragierter Soldat und unbestechlicher Beobachter, bei einigen Vorgesetzten und Kameraden noch immer jene erschreckende Paranoia aus Größenwahn und Realitätsferne, die Deutschland in dieses entsetzliche Inferno geführt hat.

Gegen Ende des Krieges meldet der Autor sich, um eine erneute Versetzung an die Ostfront zu vermeiden, freiwillig nach Italien, wo er bei Rückzugsgefechten nach der Überquerung des Po bei Ostiglia in dem Dolomitenstädtchen Cavalese strandet und Kapitulation und Gefangennahme erlebt.

Der böse Verführer Hitler selbst, das ganze Ausmaß der Katastrophe, die Judenvernichtung, die Massaker und Hinrichtungen der SS und Wehrmacht, der Bombenkrieg und die Vernichtung deutscher Städte treten in Rogges Erinnerungen gar nicht oder nur mittelbar in Erscheinung, der politische Hintergrund bleibt weitgehend ausgeblendet. Der Autor berichtet ausschließlich unmittelbare, eigene Erlebnisse, was die authentische Atmosphäre seines spannenden und fesselnden Berichts als eines Dokuments der Historie "von unten" erhöht.

Rogges eigentliches Thema sind der Krieg, das Grauen, die Extremsituationen und menschlichen Deformationen, die er auslöst. Urlaub und Erholung erlebt der Autor in dieser Zeit wie in Entr?ükung und Trance. Unmöglich erscheint damals wie heute die Einbindung der entsetzlichen traumatisierenden Kriegserfahrungen in das zivile Weiterleben.

cth 
04.08.2004

 
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Das Buch:

Felix Rogge: Cavalese - verträumt, verführt und fast verheizt

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Frankfurt am Main: Cornelia Goethe Literaturverlag 2004 260 S. ISBN: 3-8267-5498-0

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