Autobiographie

"Ich bin Bergmann, wer ist mehr?" - Die beeindruckende Autobiografie eines Steinkohlekumpels in der DDR

Bergmann im Steinkohlebergbau - das war einer der härtesten Berufe, die es in der (ehemaligen) DDR gab. Steinkohle, das "Brot der Industrie", war vor allem in den Anfangsjahren der Republik überlebensnotwendig. Den Bergmännern, die im Zwickau-Oelsnitzer Revier in rund 800 Metern Tiefe das schwarze Gold brachen, war das sehr wohl bewusst. Einer von ihnen war Gunter Weidlich, der einem in seiner Autobiografie "Meine Wahrheit über die Deutsche Demokratische Republik" als Günter Herold begegnet und seine Leser mitnimmt in die trotz aller Entbehrungen faszinierende Welt des Steinkohlebergbaus.

Mit 15, zu Beginn seines zweiten Lehrjahres, fährt Günter Herold zum ersten Mal ein, lernt die Abläufe unter Tage hautnah kennen und wird schnell eins mit seinem Beruf, der durch härteste körperliche Arbeit geprägt ist. Von Anfang an bestimmen starke Vorbilder sein berufliches und privates Leben - gestandene Bergleute, die wissen, worauf es ankommt. Im Mittelpunkt steht nicht das Glück des Einzelnen, sondern der Erfolg des Ganzen, das Kollektiv, der Plan und das Streben nach Höchstleistungen. Davon, so die Überzeugung von Günter Herold, hängt das persönliche Glück aller, noch viel mehr aber der wirtschaftliche Erfolg der jungen DDR ab. Der Autor und Protagonist des Buches versteht sich als einer, der für all das einsteht und ganz bewusst Verantwortung trägt.

1956 ist Günter Herold ein Hauer (Anm. der Red.: ein Bergmann mit abgeschlossener Prüfung), kämpft sich ganz vorn in die Kohle, dort, wo wegen der extremen Hitze und Anstrengung fast nackt gearbeitet wird. Tektonische Verwerfungen verlangen den Bergmännern alles ab. Staub, die immer und überall lauernde Gefahr von Gebirgsschlägen, Kohlestaubexplosionen oder technischen Störungen machen den Bergleuten die Arbeit unter Tage besonders schwer. Doch Günter Herold ist gerade WEGEN dieser harten Arbeit stolz und glücklich. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass er nach der Geburt des ersten Kindes mit seiner kleinen Familie drei Jahre lang in einem einzigen Zimmer leben muss. In persönlichen und beruflichen Krisen ist es seine Frau Reni, die Günter "auffängt" und mit ihrem grenzenlosen Optimismus neue Kraft gibt.

Nach dem Studium, als gerade mal 22-jähriger Steiger, muss sich Günter Herold vor allem gegenüber älteren Kumpeln durchsetzen und mit Herausforderungen klarkommen, für die kein Lehrbuch eine Lösung parat hat: ein Gebirgsschlag, der 40 cm dicke Holzstämme wie Streichhölzer bricht und Stahlträger (sogenannte Stempel) metertief in die Kohle rammt; ein Aufbruch (Dacheinsturz), der 6 Meter nach oben reicht - unmöglich, ihn mit Holzpfeilern zu sichern. Unmöglich? "Geht nicht, gibt’s nicht!" Und schließlich geht es eben doch!

Mit 29 wird Herold Parteisekretär. Schnell fallen ihm Missstände auf, die exemplarisch für die DDR stehen: Da werden Hauer, die unter Tage die schwerste Arbeit leisten, nicht besser bezahlt als Arbeiter im "Nebenprozess". Die Motivation der Hauer sinkt, der Plan ist in Gefahr. Wieder bekommt Herold nur ausweichende Antworten auf drängende Fragen, begegnet mangelnder Bereitschaft, persönlich Verantwortung zu übernehmen. Doch der junge Parteisekretär macht sich lieber unbeliebt, als sich anzupassen. "Ich habe ... oft genug in meinem Leben erfahren, dass nicht wenige Menschen Entscheidungen aus dem Wege gingen, um nichts verantworten zu müssen ..." - ein Satz, der auch 50 Jahre danach nichts an Aktualität verloren hat.

***

Gunter Weidlich alias Günter Herold ist ein Mann der Tat. Disziplin weiß er vor allem in überlebenswichtigen Fragen zu schätzen, ohne sie jedoch mit Hörigkeit zu verwechseln. Ob als Bergmann oder Parteisekretär: Ausgehend von seiner kommunistischen Überzeugung kämpft Günter Herold schon lange vor dem Ende der DDR gegen Schönfärberei und Routine, Eigennutz, Schlamperei und vorauseilenden Gehorsam - die Urkrankheiten der DDR.

Und doch spricht aus jedem Wort des heute fast 71-jährigen Autors der tiefe Stolz auf das Erreichte, sowohl im beruflichen wie auch im privaten Leben - und auch in der Politik, vor allem der Friedenspolitik der sozialistischen Staaten. Dort, wo Menschen heute an oftmals überzogenen Erwartungen hungern, stand damals das Vertrauen in die eigene Kraft, die felsenfeste Überzeugung, vom Kumpel, vom Kollektiv und nicht zuletzt der eigenen Ehefrau niemals im Stich gelassen zu werden. Gunter Weidlich zeigt seinen Lesern die ungeschönte Wirklichkeit unter Tage und lehrt sie ganz nebenbei gleich zwei Sprachen: die des Bergmannes und die der offiziellen DDR.

25 Jahre lag das 1984 entstandene Manuskript in der Schublade, bevor es in unveränderter Form gedruckt wurde. "Meine Wahrheit über die Deutsche Demokratische Republik" ist ein Zeitzeuge, eine regelrecht konservierte Stimme der DDR, die von Stolz und Enthusiasmus der Menschen an der Schwelle zu einer neuen Zeit ebenso berichtet wie vom ewigen Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit, der letztlich mit zum Scheitern der "Ostzone" beitrug.

Mario Lichtenheldt 
04.10.2010

Eine Lesung aus diesem Buch finden Sie hier: 
http://www.autoren-tv.de/vorschaltseiten/weidlich_intro.html

 
Diese Rezension bookmarken:

Das Buch:

Gunter Weidlich: Meine Wahrheit über die Deutsche Demokratische Republik. Lebensbericht

CMS_IMGTITLE[1]

Frankfurt am Main: Weimarer Schiller-Presse 2010
193 S., € 17,80
ISBN: 978-3-8372-0704-0

Diesen Titel

Logo von Amazon.de: Diesen Titel können Sie über diesen Link bei Amazon bestellen.