Autobiographie

Der lange Arm der Stasi

Neu erscheinende Biographien von Sportlern reißen in der heutigen Zeit außer der hauseigenen Fangemeinde normalerweise keinen mehr vom Hocker, da die Flut solcher Werke ob des starken Selbstverwirklichungs- und Profilierungsdranges selbst zweit- und drittklassiger Athleten den Markt unübersichtlich gemacht hat. Auch ein Jörg Berger gehört mangels großer nationaler und internationaler Erfolge vordergründig nicht in die Hall of Fame des deutschen Fußballs. Sicherlich hat er sich in der Bundesliga einen Namen als der "Feuerwehrmann" schlechthin gemacht, indem er mehrfach hoffnungslose Fälle vor dem Abstieg gerettet hat. Legendär und in nahezu jedermanns Gedächtnis ist dabei vor allem der Klassenerhalt der Frankfurter Eintracht am Ende der Saison 1998/1999 zu nennen, der erst mit einem auch in der Höhe benötigten 5:1-Sieg in allerletzter Sekunde zustande gekommen ist. Daraufhin sprach man von Jörg Berger auch als dem Mann, der "sogar die Titanic gerettet hätte".

Jedoch räumt Jörg Berger in seiner gerade erschienenen Biographie "Meine zwei Halbzeiten" diesen sportlichen Kapiteln kaum Platz ein, da er eine viel interessantere Geschichte zu erzählen hat: die Geschichte seines Lebens in Ost und West. Nachdem seine Karriere als Spieler bei Lok Leipzig durch Verletzungen ein frühzeitiges Ende gefunden hatte, wurde er bereits in jungen Jahren ein hoffnungsvoller und erfolgreicher Trainer. Sein Weg zum Chefcoach der DDR-Auswahlmannschaft schien vorgezeichnet. Jedoch fiel es Berger immer schwerer, die Repressalien der DDR-Führung, die Einmischung in sein Privatleben und ganz grundsätzlich die Beschneidung seines freien Willens hinzunehmen. So zog Berger bei einem Auswärtsspiel der von ihm trainierten U23-Nationalmannschaft in Subotica (Jugoslawien) die Reißleine und flüchtete dank der Unterstützung der deutschen Botschaft in Belgrad per Zug in die Bundesrepublik Deutschland.

Jörg Berger liefert im vorliegenden Buch unverhüllte Einblicke in seine Gefühlswelt: Unbändige Angst und Verfolgungswahn auf dem gesamten Weg bis zur österreichischen Grenze und anschließend grenzenlose Emotionen bei deren Überquerung. Doch der Glückseligkeit, die Berger beim Herzen des Schaffners in Sektlaune fühlte, folgte bereits kurze Zeit später eine gewisse Ernüchterung. Zumindest in seinen ersten Tagen im Westen sollte sich bewahrheiten, was ihm seine Mutter schon vorher gesagt hatte: "Du glaubst doch nicht, die im Westen warten auf dich". Doch unterstützt durch seine ehemaligen Spieler Norbert Nachtweih und Jürgen Pahl findet Berger sich peu à peu sogar im Frankfurter Rotlichtviertel zurecht. Amüsiert begleitet der Leser Berger bei dessen Anpassungsschwierigkeiten im Westen, so z.B. seiner Hilflosigkeit bei der ersten Nutzung eines Parkhauses in Offenbach.

Schockierend ist dagegen die Schilderung seiner Gefühlslage als Bürger der BRD in den Achtzigern, ständig in Angst vor dem langen Arm der Stasi zu leben. Dabei verhält sich Berger bewusst zurückhaltend, vermeidet bei Interviews jegliche Provokation durch Äußerungen über das DDR-Regime, ganz anders als der ebenfalls 1979 geflüchtete Lutz Eigendorf, der dies letztlich mit dem Leben bezahlen musste. Bergers Befürchtungen bestätigen sich in einer merkwürdigen und langwierigen Erkrankung mit Lähmungserscheinungen, die durch eine Schwermetallvergiftung ausgelöst wurde. Dass seine Vermutung, diese habe er Stasi-Mitarbeitern zu verdanken, nur schwerlich von der Hand zu weisen ist, wird durch die in der Zwischenzeit zutage getretenen Unterlagen zum Fall Eigendorf nur wahrscheinlicher und für jedermann nachvollziehbar.

Bergers Sprache ist authentisch, was als Verdienst seiner Ghostwriterin Regina Carstensen anzuführen ist. Man fühlt sich in einem netten Plausch mit Jörg Berger, der genauso natürlich und geradeaus rüberkommt, wie man ihn über Jahrzehnte hinweg im Fernsehen wahrgenommen hat. Diese Authentizität gereichte ihm unter dem SED-Regime definitiv nicht zum Vorteil. Darüber hinaus war Berger stets ein Filou und Weiberheld allererster Güte, seine im Buch gemachten Andeutungen über amouröse Abenteuer nehmen definitiv mehr Platz ein als zum Verständnis notwendig gewesen wäre.

Es mutet äußerst tragisch an, dass Jörg Berger seinen beiden Halbzeiten ein Kapitel "Verlängerung" anschließen musste, in dem er von seinen mehrfach diagnostizierten Krebserkrankungen berichtet, die sein Leben seit über sechs Jahren bestimmen. Doch Jörg Berger lässt selbst in dieser schweren persönlichen Situation durchblicken, dass er auch hier seine kämpferische Einstellung, die ihm schon seit seiner Kindheit zu eigen und stets Schlüssel zum Erfolg war, niemals aufgegeben hat. Alles in allem hat Jörg Berger mit seiner Biographie ein Buch veröffentlicht, das sowohl der an Fußball als auch der an deutsch-deutscher Geschichte interessierte Leser innerhalb kürzester Zeit verschlingen wird, da es letztlich doch nichts Spannenderes gibt als diejenigen Geschichten, die von der Wirklichkeit bereitgehalten werden!

Christoph Mahnel
27.04.2009

 
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Das Buch:

Jörg Berger, Regina Carstensen: Meine zwei Halbzeiten. Ein Leben in Ost und West

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Reinbek: Rowohlt Verlag 2009
263 S., € 19,90
ISBN: 978-3-498-00654-9

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