Medien & Gesellschaft

Im Westen geht die Sonne auf

Weder die nächsten fünfundzwanzig Meisterschaften des FC Bayern in den kommenden drei bis vier Jahrzehnten noch die Brause-Millionen eines Österreichers, die in den Leipziger Emporkömmlingsverein gepumpt werden, können darüber hinwegtäuschen, dass das Herz des bundesrepublikanischen Fußballs im Ruhrpott schlägt. Gewiss haben viele der dort angesiedelten Vereine ihre Blütezeit und ihre goldenen Jahre längst und irreversibel hinter sich gebracht, doch ist dort abseits der mehr oder minder professionell geführten Aushängeschilder Borussia Dortmund und Schalke 04 noch der letzte Rest an Fußball-Romantik zu finden. In keiner Region Deutschlands ballen sich Fußballvereine so dicht wie im Gebiet zwischen Rhein, Ruhr, Lippe und Emscher. Infolgedessen gibt es auch nirgendwo sonst so viele prestigeträchtige Lokalderbys wie dort.

"Im Land der tausend Derbys" ist somit der passende Titel des Buchs von Hartmut Hering, das Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Fußballs im Ruhrgebiet beleuchtet. Erstmals war dieses Buch 2002 erschienen, seit langem vergriffen, so dass sich der Herausgeber an eine gründlich überarbeitete Neuauflage heranwagte. In diesem Spätherbst war es dann soweit, so dass der herausgebende Göttinger Verlag Die Werkstatt diesen über zwei Kilogramm schweren Wälzer aus der Druckwerkstatt auf die Reise schicken konnte. Ein Schwergewicht ist das vorliegende Buch nicht nur aufgrund seines Formats, sondern auch ganz klar inhaltlich. Auf fast 400 Seiten findet der geneigte Leser eine höchst ergiebige Informationsdichte vor, die zum stunden- und tagelangen Verweilen in diesem Buch einlädt.

Der in Gelsenkirchen verwurzelte Hartmut Hering fungiert für dieses Buch als Herausgeber und hat eine breite Riege illustrer und hochklassiger Fußballfachleute hinter sich geschart, um dieses anspruchsvolle Werk rundzumachen. Mit Hardy Grüne, Werner Skrentny oder Dietrich Schulze-Marmeling seien nur einige dieser Schreiberlinge erwähnt, die sich schon mit vielen Veröffentlichungen um den Fußball verdient gemacht haben. Hering hat für den Einstieg in sein Buch eine stark vereinfachte Landkarte gewählt, auf der neben den Läufen der vier oben genannten Flüsse die Embleme der wichtigsten Fußballvereine der Region abgebildet sind. So weiß dann auch der ortsfremde Fußballfan sogleich Bescheid, bei welchen Derbys mutmaßlich die Post im Pott so richtig abgeht. Doch während einige Embleme dem Kenner sofort klar sind, finden sich jedoch auch einige darunter, bei denen man das Buch etwas näher zu den Augen führen muss, um den sich dahinter verbergenden Verein identifizieren zu können

Wer beispielsweise in Essen nur an den mittlerweile in der Regionalliga vor sich hin dümpelnden ehemaligen Vorzeigeklub Rot-Weiß Essen denkt, der missachtet ganz gewaltig, was die Fußballfans in dieser Ecke des Ruhrgebiets bewegt und vor allem bewegte. Neben Schwarz-Weiß Essen oder dem FC Kray gibt es da beispielsweise noch die Sportfreunde Katernberg, immerhin eine Station in der Vita vom "Boss" Helmut Rahn, seines Zeichens Siegtorschütze beim Wunder von Bern. Ähnlich differenziert sind weitere Keimzellen des Ruhrpott-Fußballs wie Duisburg, Herne oder Bochum mit etlichen Vereinen durchsetzt. Als Leser taucht man sofort ab in die Geschichte dieser Vereine, welche schließlich meist rosiger ist als deren Gegenwart. Für sein Buch hat Hering einen grundsätzlich chronologischen Aufbau gewählt und räumt an den geeigneten Stellen den prominentesten Vereinen und elektrisierendsten Derbys mit entsprechenden Porträts den angemessenen Raum ein.

Sehr oft wählen Hering und seine Kollegen im vorliegenden Buch explizit die Abgrenzung zu Schalke und dem BVB, um sich besser der breiten Masse und dem Herz des Ruhrpott-Fußballs widmen zu können. Gemäß dem chronologischen Aufbau ist es daher auch naheliegend, dass die "Zecken" als momentan zweite Kraft im deutschen Fußball erst im hinteren Teil des Buches ausführlich behandelt werden. Allerdings sind es ganz andere Geschichten, die "Im Land der tausend Derbys" zu einem Quell der Freude machen. Exemplarisch sei hier der SV Sodingen genannt, heute nur noch siebtklassig hatte dieser Herner Vorortverein Anfang der Fünfziger Jahre seine große Zeit, als man einmal die Qualifikation für das Finale um die Deutsche Meisterschaft nur haarscharf verpasste. Mit viel Liebe zum Fußball berichtet das vorliegende Buch von solchen Geschichten oder Rivalitäten in sogenannten Straßenbahn-Derbys. Doch leider können auch Hering und seine Co-Autoren nicht leugnen, dass die Fußball-Romantik des Ruhrgebiets vergänglich ist.

Christoph Mahnel
19.12.2016

 
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Das Buch:

Hartmut Hering (Hrsg.): Im Land der tausend Derbys - Die Fußball-Geschichte des Ruhrgebiets

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Göttingen: Verlag Die Werkstatt 2016
384 S., € 34,90
ISBN: 978-3-730-70209-3

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