Medien & Gesellschaft
Der einzigartige Prozess
Vor ziemlich genau siebzig Jahren glich das Deutsche Reich in den Tagen und Wochen nach Kriegsende einem Scherbenhaufen. Die Großstädte lagen in Trümmern und Obdachlose zogen irrend umher, während sich die meisten Männer aus der obersten NS-Führungsriege klammheimlich aus ihrer Verantwortung zu ziehen versuchten. Doch dies wollten die siegreichen Alliierten mit aller Macht verhindern. Strafe musste schließlich sein, aber wie? Nie zuvor hatte die Menschheit in ihrer Geschichte einen derart abscheulichen und verbrecherischen Krieg erleiden müssen. Es lag ein Angriffskrieg als unbestreitbarer Tatbestand vor, der alle bisherigen Dimensionen der Vorstellungskraft sprengte, doch sollte er auch die Möglichkeiten der strafrechtlichen Verfolgung übersteigen?
In der Vergangenheit hatte in sogenannten Friedensverträgen am Ende eines Krieges meist die Siegerjustiz Anwendung gefunden und darin bereits die Saat des nächsten Krieges zum Keimen gebracht, man denke nur an den unsäglichen Versailler Vertrag. Doch dieses Mal wollten die Alliierten und hier in vorderster Front die Amerikaner mit ihrem Chefankläger Robert H. Jackson einen Prozess gegen die Kriegsstifter führen, der juristisch erhaben und nachvollziehbar war, schlussendlich aber die Schuldigen ebenfalls an den Galgen bringen sollte. Einer Quadratur des Kreises kam diese Herausforderung gleich, da sie keinen zeitlichen Aufschub duldete und von der gesamten Weltöffentlichkeit mit Spannung erwartet wurde. Gewürzt wurde die ganze Angelegenheit mit der einsetzenden Entfernung zwischen den alliierten Mächten, die wenige Jahre später in den Kalten Krieg münden sollte.
Der Jurist und Journalist Thomas Darnstädt hat mit "Nürnberg - Menschheitsverbrechen vor Gericht 1945" ein sehr gut lesbares Kompendium über die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse geschrieben, das zur siebzigsten Jährung dieses einzigartigen Prozesses gegen die Übriggebliebenen aus der ersten Führungsriege erschienen ist. Der Autor beginnt seine umfassenden Ausführungen mit der juristischen Grundlagenarbeit, bei der das Vorhaben der Alliierten bereits zu scheitern drohte. Noch nie zuvor in der Geschichte stand die Menschheit vor einer solch gewaltigen Hürde, da noch nie derart großes Unrecht verübt worden war. Mit welchen Anklagepunkten sollte Göring, Heß und den anderen der Prozess gemacht werden? Auf welcher Grundlage basierte die Anklage denn überhaupt?
Unterschiedliche Interessen bei den alliierten Mächten waren das eine Dilemma, unterschiedliche Rechtsauffassungen und -prinzipien bildeten eine weitere Kluft insbesondere zwischen Engländern und Amerikanern auf der einen sowie den Sowjets auf der anderen Seite. Darnstädt macht in seinen Ausführungen gelungen deutlich, wie in der Vorbereitung auf den großen Prozess oftmals mit heißer Nadel gestrickt wurde und trotz erheblicher Distanz in einigen Streitpunkten am Ende doch ein Tribunal auf die Beine gestellt wurde, das allgemeinen juristischen Prinzipien entsprach. Naturgemäß nimmt der Ablauf des Prozesses im vorliegenden Buch den größten Teil ein, als es bisweilen gespenstisch wird, wenn die Todgeweihten ihre krude Sicht in absurden Erklärungen kundtun.
Im weiteren Verlauf nimmt der Leser dank Darnstädts fesselnder Beschreibungen mit gebührendem Abstand Platz in dem Besprechungszimmer der Richter, als diese das Strafmaß gegen die Angeklagten vehement diskutierten und schließlich ihre Urteile fällten. Zwölfmal lautete das Urteil "Tod durch den Strang", bekanntermaßen wurden jedoch nur zehn Angeklagte tatsächlich erhängt, da Martin Borrmann in Abwesenheit verurteilt wurde und Hermann Göring sich mit Hilfe einer Giftkapsel kurz vor dem Gang an den Galgen selbst richtete. Doch Darnstädts Ausführungen enden damit noch lange nicht. Stattdessen spinnt er geschickt den Faden bis in die Gegenwart hinein und macht deutlich, wie die Nürnberger Prozesse den ersten und wichtigsten Schritt hin zum über ein halbes Jahrhundert danach etablierten Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag bedeuteten.
"Nürnberg - Menschheitsverbrechen vor Gericht 1945" ist ein trotz des allgemein bekannten Ausgangs des Prozesses spannend geschriebenes und zu lesendes Werk über ein Tribunal, das die Welt und das Empfinden für Unrecht im Krieg verändern sollte. Sicherlich hat der Jurist bezüglich der Nürnberger Prozesse noch seinen ganz besonderen rechtshistorischen und rechtstheoretischen Blickwinkel, doch belässt es Darnstädt hier bei einfachen und verständlichen Erklärungen, um den gewöhnlichen zeitgeschichtlich interessierten Leser nicht zu überfordern. Auf ziemlich genau 400 Seiten gelingt Darnstädt ein stimmiger Rundumblick auf den Nürnberger Kriegsverbrecherprozess, der eine breite Leserschaft gleichermaßen fesselt und fachkundig informiert.
Christoph
Mahnel
29.06.2015