Medien & Gesellschaft

Die kulturellen Bedingungen für den Ersten Weltkrieg

Seit Jahrzehnten bereichert das Verlagshaus J.B. Metzler den Buchmarkt um seine hervorragenden Handbücher zum Lebenswerk großer Literaten, Philosophen und Gelehrten, aber auch zu literaturwissenschaftlichen Gattungsbegriffen und einzelnen Epochen der Kulturgeschichte. Zu letzteren zählt der kürzlich erschienene Titel Erster Weltkrieg. Kulturwissenschaftliches Handbuch herausgegeben von Niels Werber, Stefan Kaufmann und Lars Koch. In Zusammenarbeit mit weiteren Fachautoren beleuchten die Herausgeber die Vielzahl kultureller Aspekte (teilweise exemplarisch, teilweise erschöpfend), die in der deutschen Mentalität den Nährboden für die "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" bildeten.

Im Mittelpunkt der Untersuchung steht jedoch die Frage, inwieweit der Erste Weltkrieg überhaupt als Zäsur in der (deutschen) Geschichte verstanden werden kann. Die Herausgeber sprechen sich gegen die Vorstellung aus, "der Erste Weltkrieg sei ein atavistischer Rückfall hinter die Moderne gewesen." Vielmehr verstehen sie "den Krieg als Katalysator bereits auf dem Weg befindlicher gesellschaftlicher Prozesse, die - in all ihrer Destruktivität - zu den Möglichkeiten der Moderne gehören." Obwohl sich die Ausführungen auf den deutschen Kulturraum beschränken, sind die Fakten doch oftmals in Abgrenzung zu parallelen Entwicklungen in den Nachbarländern England, Frankreich oder dem Bündnispartner Österreich-Ungarn geschildert.

Das Handbuch ist im Wesentlichen in drei Großkapitel gegliedert, die grob der chronologischen Aufteilung in Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegsjahre folgen. So schafft Kapitel II "Das unruhige Zeitalter" zunächst einen Überblick über die geopolitischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen für den Ersten Weltkrieg. Der an die natürlichen Grenzen stoßende Expansionsdrang der Kolonialmächte, Deutschlands Wunsch, sich aus dem Klammergriff seiner territorialen Mittellage zu befreien, die steigende Zahl von Globalisierungsphänomenen (beispielhaft geschildert in den Ideen einer Weltsprache, einem Dienst für internationale Blumenzustellung und einer Standardisierung des Papierformates), sowie die Kriegsprognosen und Diagnosen zeitgenössischer Autoren, die von literarischer Mobilmachung bis pazifistischen Gegenschriften reichen, bilden die Hauptthemenbereiche dieses ersten Großkapitels.

In Kapitel III "Krieg" stehen die technologischen und strategischen Neuerungen für einen ersten vollindustrialisierten Krieg im Mittelpunkt - aber auch die emotionalen Auswirkungen auf seine Soldaten, die sich als entindividualisierte Fabrikarbeiter an der Bedienung schwerer Tötungsmaschinen wiederfinden. Die Beschreibung
organisatorischer, ökonomischer, ideologischer, aber auch psychologischer Voraussetzungen schafft einen Überblick über sämtliche Faktoren, die die Kriegsmaschinerie über einen Zeitraum von vier Jahren in Gang halten können. Kapitel IV "Nachkrieg?" schließlich spannt den Bogen zur Weimarer Republik, einer parlamentarischen Demokratie im Ausnahmezustand, die sich mit zwei schwerwiegenden wirtschaftlichen Krisen konfrontiert sieht. Der Versuch dem verlustreichen, sieglosen Krieg einen Sinn zu geben, die künstlerische Verarbeitung von Fronterfahrungen, die zahlreichen Aspekte einer neuen Medienkultur und die baldige Erstarkung der nationalsozialistischen Bewegung gehören zu den Kernthemen dieses letzten Großkapitels. Auf einen abschließenden Ausblick, der sich nochmals konkret der Kernfrage widmet, inwieweit der Erste Weltkrieg als Zäsur in der Geschichte verstanden werden kann, folgt ein ausführliches Personenregister, das die Suche nach gezielten Informationen zusätzlich erleichtert.

Mit seinem Anspruch auf Vollständigkeit ist das Handbuch Erster Weltkrieg unverzichtbar nicht nur für Studierende der Kultur- und Geschichtswissenschaften, sondern insbesondere auch für Literaturwissenschaftler, Soziologen und Psychologen sowie Medien- und Politikwissenschaftler, deren Forschungsthemen in die Zeit des wilhelminischen Kaiserreichs und der Weimarer Republik fallen. J.B. Metzler legt uns hier nicht nur ein gut strukturiertes Nachschlagewerk vor, mit dessen Hilfe schnell und effizient Grundlagen zu kulturellen Teilaspekten vermittelt werden; das Handbuch lädt aufgrund seines spannenden Sprachstils und der übersichtlichen Einteilung in einzelne Teilabschnitte auch stets zum Schmökern ein.

Wer die komplexen Zusammenhänge von verschiedenen gesellschaftlichen Strömungen und kulturellen Voraussetzungen verstehen möchte, die in der Summe den Ersten Weltkrieg nicht verhindern konnten, ist mit der Anschaffung dieses Titels bestens beraten.

Martin Cremers
28.07.2014

 
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Das Buch:

Niels Werber, Stefan Kaufmann, Lars Koch (Hrsg.): Erster Weltkrieg. Kulturwissenschaftliches Handbuch

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Stuttgart: J.B. Metzler 2014
521 S., € 69,95
ISBN: 978-3-476-02445-9

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