Medien & Gesellschaft

Berlin statt Hiroshima?

Es galt eigentlich lange als bewiesene Behauptung: Die deutsche Physik hatte aus Materialmangel die Entwicklung einer Atomwaffe und eines Atomreaktors zur Erzeugung atomarer spaltbarer Produkte weit vor Kriegsende eingestellt. Die deutschen Physiker – allen voran die Lichtfigur Otto Hahn, der Nobelpreisträger, der es nicht für nötig erachtete, die unbestreitbaren Verdienste einer Lise Meitner an seinen Arbeiten gerecht zu würdigen – wurden nach dem Krieg nicht nur schnell entlastet, die Siegermächte versuchten auch schnell, sie für ihre eigenen Zwecke zu gebrauchen. Nicht wenige haben nach kurzer Zeit ihre Karriere fortsetzen können.

Aber wie war es mit der zweiten Reihe? Wurde dort vielleicht weitergearbeitet? Dieser Frage geht der Autor nach und kommt zu überraschenden Ergebnissen. So gab es nach seinen Forschungen einen Atomreaktor, in dem spaltbares Material erzeugt wurde. Außerdem gab es atomare Sprengversuche, die zahlreiche Menschenleben (meist Kriegsgefangene oder KZ-Opfer) forderten. Eine Kettenreaktion, wie es zur Zündung einer Atombombe nötig ist, gab es nicht, aber weit war man wohl nicht weg. Schließlich wurde kurz vor Weltkriegsende auch in einem U-Boot eine geheimnisvolle Kiste nach Japan transportiert, die mit U-235 beschriftet war. Dieses aber ist das Isotop, das für eine Kettenreaktion und damit für die Herstellung einer Atombombe nötig war.

Hitler und seine Kumpanen haben in den letzten Kriegsmonaten oft von Wunderwaffen gesprochen, die die Wende bringen sollten. War dabei neben der V2 und Düsenflugzeugen vielleicht auch die Atombombe gemeint? Leider ist die Datenlage – also die Anzahl erhaltener Unterlagen – sehr dürftig, sodass es nicht abschließend zu beurteilen ist, wie nahe die Nazis vor dem Einsatz der Atombombe standen. Wahrscheinlich wird sich das nie genau feststellen lassen. Folgt man jedoch Karlschs Argumentation und erkennt man seine gründliche Recherche an, war es nicht mehr lange bis dahin.

Was aber wäre passiert, hätte Hitler die Bombe gehabt? Sicher hätte er sie eingesetzt, denn ihm war jedes Mittel recht. Das Kriegsende hätte er damit vielleicht verschieben, aber nicht ändern können. Eine fast sichere Folge wäre gewesen, dass – hätte sich der Krieg um nur zwei oder drei Monate verlängert – die erste Atombombe nicht auf Hiroshima gefallen wäre, sondern auf Deutschland, und hier mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf Berlin. Diese Vorstellung ist schrecklich, denn eine solche Eskalation hätte die Zahl der Toten auf beiden Seiten noch einmal deutlich erhöht und den Wiederaufbau wie auch die Aussöhnung erschwert. So gesehen ist man nach der Lektüre von Karlschs Buch regelrecht froh, dass der Krieg nicht noch so lange gedauert hat, bis die Deutschen vielleicht wirklich eine funktionierende Atombombe gehabt hätten.

hah
03.06.2005

 
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Das Buch:

Rainer Karlsch: Hitlers Bombe. Die geheime Geschichte der deutschen Kernwaffenversuche

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München: Deutsche Verlags-Anstalt 2005
416 S., € 24,90
ISBN: 3-421-05809-1

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