Medien & Gesellschaft

Von Menschen und Zeiten und Büchern

Die Geschichte eines Verlags als Buch definiert sich vom Ende einer solch hochsensiblen Einrichtung her und impliziert damit naturgemäß den aufklärerischen Impuls. Der Greifenverlag zu Rudolstadt, der 1993 im Gefolge des gesellschaftlichen Umbruchs mit dem Ende der DDR liquidiert wurde, kann dafür geradezu als Musterbeispiel gelten.

Das Verlagshaus konnte auf eine mehr als 70-jährige Tradition zurückblicken. 1919 im Umfeld von Jugendbewegung und Wandervogel gegründet, hat das Unternehmen über fast ein Dreivierteljahrhundert in den Zäsuren der Geschichte gelebt: Weimarer Republik, Weltwirtschaftskrise, mit der eine Radikalisierung des politischen Lebens in Deutschland einher ging, die Gewaltherrschaft im "Dritten Reich". 1945 erfolgte die Neugründung des Verlags mit sowjetischer Lizenz. Der dominanten Persönlichkeit des Gründers und Leiters, des "Greifenvaters" Karl Dietz, gelang es, sich als Privatverleger in der DDR zu etablieren und den Bestand seines Unternehmens bis zu seinem Tod 1964 zu sichern. 1965 wurde das Editionshaus verstaatlicht.

Im Verlag sind fast 1000 Titel erschienen. Die fünfziger Jahre mit herausragenden buchkünstlerischen Leistungen wurden zum Höhepunkt. Mit der Publikation von Exilliteratur erwarb sich der Greifenverlag bleibende Verdienste.

Die von Jens Henkel und Gabriele Ballon erarbeitete Bibliographie der gesamten Verlagsproduktion ist verdienstvoll und macht das Buch zum wichtigen Nachschlagewerk.
Carsten Wurm, Verlagschronist und Kenner der Geschichte des Buchwesens, der sich mit mehreren entsprechenden Dokumentationen ausgewiesen hat, legt mit dieser Monographie das Standardwerk über den wichtigsten belletristischen Thüringer Verlag des 20. Jahrhunderts vor. Auf einem akribischen Quellenstudium basierend, zeichnet der Germanist und Historiker detailgenau und insgesamt ausgewogen in den Wertungen das Bild eines geistig-kulturellen Sammelbeckens, mit seinen Protagonisten und vor allem seinen Büchern.

Obgleich nach eigenem Bekunden des Verfassers alle Perioden der Verlagsgeschichte gleich intensiv dargestellt werden sollten, lässt schon der Blick auf die Proportionen erkennen: Das eigentliche Erkenntnis- und Entdeckungsinteresse lag eindeutig bei der Aufhellung der widersprüchlichen Verlegerbiographie von Karl Dietz und dessen Wirken. Den 45 Jahren seines Verlages geht Carsten Wurm auf mehr als 120 Seiten nach; mehr als die Hälfte dieser Zeit als volkseigener Verlag entspricht längst nicht fünfzig Prozent der dafür aufgewendeten Buchseiten. Freilich war bei Karl Dietz mancherlei aufzuklären, zuvörderst die Legende vom antifaschistischen Widerstandskämpfer, mit der er 1945 wieder antrat und die er wohl selbst verinnerlicht hatte. Und Widersprüchliches, vielleicht exemplarisch für eine deutsche Biographie dieser Zeit, ist von vornherein ein Faszinosum, wie viel mehr bei einem Mann von solch "bajuwarischem Tatendrang", einem Kunst- und Buchkunstliebhaber und Lebensgenießer.

Deutlich uninspirierter und gleichgültiger wird der staatliche Verlag als spezialisiert auf seichte Unterhaltungsliteratur behandelt. Es ist dies eine einseitige Wahrnehmung, der in Materialauswahl, -organisation und Interpretation zugearbeitet wird. So geht es z. B. nicht an, den Thüringer Schriftsteller Armin Müller zwar als den bedeutendsten Autor neben dem bekannten Reportage-Autor Landolf Scherzer zu bezeichnen, den der Greifenverlag im Programm hatte, zu seinen Büchern, mit denen er fraglos in die deutsche Literaturgeschichtsschreibung eingegangen ist, aber nichts, literaturgerecht, zu sagen. Über DDR-Literatur im Greifenverlag wird auf anderthalb Seiten hinweggeschrieben.

Schwerer ins Gewicht fällt m. E. jedoch die letztlich nicht befriedigende Aufklärung und Darstellung des bittersten Teils der Verlagsgeschichte: des Untergangs. "Was sich genau abspielte, entzieht sich ... weitgehend der kritischen Betrachtung", resümiert Carsten Wurm und fügt an: "Da mehrere Protagonisten heute noch in der Branche arbeiten, ist es zudem angebracht, ihre Kreise nicht zu stören." Ein Eingeständnis – um so trostloser ob des späten Opfers dieser Katastrophe. Der letzte Cheflektor des Verlags, dessen Leben, wie das Leben anderer mit dem Verlag verbundener, dieser Wirkungskreis war, wählte 1999 den Freitod. Inständig hatte er gehofft, es möge offenbar werden, wer die Schuld am Ende des Greifenverlags trägt.
In den Kontext dieser Verlagsmonographie gehört auch das.

hvö
10.07.2002

 
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Das Buch:

Carsten Wurm u.a.: Der Greifenverlag zu Rudolstadt 1919-1993. Verlagsgeschichte und Bibliographie

CMS_IMGTITLE[1]

Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2001
414 S.
ISBN: 3-447-04501-9

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